Erri De Luca: Gemeißelte Natur
Der Baum wirft einen großen Schatten.
Erri De Luca (Bild oben) stellt sich vor: Der Schatten ist eine Tischdecke, die der Baum freundlich für ihn ausbreitet.
Deshalb zieht er sich die Schuhe aus, bevor er den Schatten betritt.
So einer ist der Sizilianer; und so schreibt er. Er meißelt Skulpturen, bis nur noch eine Träne übrig bleibt oder ein Schmetterling oder ein Kuss. Etwas Federleichtes jedenfalls, obwohl es schwer wiegt.
Der Roman „Montedidio“ machte den ehemaligen Maurer, Lagerarbeiter und Lkw-Fahrer De
Luca 2001 bekannt – im ältesten Teil Neapels, in Montedidio, lernen die Bewohner: Wer allein ist, ist weniger als einer.
Nun ist es Zeit für einen Dialog mit Gott. Einen Dialog mit den Weltreligionen. In der Hoffnung, Gott zu gewinnen. Aus Angst, Gott zu verlieren. Und das macht der 67-jährige Erri De Luca mit folgender Geschichte:
Ein Bergbewohner, vielleicht im
Piemont, begleitet Reisende – er sagt niemals: Flüchtlinge; er sagt niemals: schmuggelt – auf gefährlichen Routen über die Grenze.
Das machen im Dorf gegen Geld auch der Schmied und der Bäcker. Aber mit einem Unterschied:
„Er“ gibt er den Reisenden, am Ziel angelangt, ihr Geld zurück; und hält sich die Ohren zu, um keinen Dank zu hören; und verschwindet.
Als sich das herumspricht, wird er im Dorf angefeindet und geht ins Exil, ans Meer. „Er“ ist der Icherzähler. Ein Bildhauer. Ein gebildeter Künstler, aber niemals würde er von sich behaupten, Künstler zu sein.
Soll hier weitererzählt werden? Es könnte reichen, um in die nächste Buchhandlung zu gehen.
An der Küste hat ein Pfarrer eine herrliche Jesusfigur aus Marmor stehen. Der Mann, der sie vor 100 Jahren schuf, ließ Jesus unbekleidet. Das durfte damals nicht sein, ein anderer Bildhauer musste einen steinernen Schurz ergänzen.
Nun aber scheint der Kirche die Zeit reif dafür, den Gekreuzigten nackt zu zeigen.
Der Erzähler wird den Schurz entfernen, dabei wird „die Natur“ beschädigt – er sagt niemals: Glied, Penis. Er wird „die Natur“ nachbauen. Sie hat eine leichte Erektion, wie sie im Todeskampf vorkommt. Geht das?
Während er meißelt und poliert und im Marmor Gänsehaut spürt und auf den Nägeln Buchstaben entdeckt, wird man ... „Den Himmel finden“. Das ist der Titel des Romans.
Die Arbeit an Christus ist ein religiöser Akt. Über Nächstenliebe und Barmherzigkeit wird laut nachgedacht. Zarte Sätze, die geschickt Pathos meiden, können eine Wucht haben.
Seite 137: „Der Tod ist ein vierblättriges Kleeblatt, früher oder später findet man ihn, und mehr gibt es nicht.“
Wo ist ein Baum, um lesend im Schatten unbekannte Ziele zu erreichen?
Ohne Schuhe.
Erri De Luca:
„Den Himmel
finden“
Übersetzt von
Annette
Kopetzki.
List Verlag.
192 Seiten.
17,50 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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