Elton John im Interview: „Vergib dir selbst, vergib den anderen“

„Ich hatte nichts außer Erfolg und Drogen.“ So beschreibt Elton John in einer neuen Doku seinen Seelenzustand vor der größten Stadionshow, die die Welt je gesehen hatte, sein Konzert im Dodger Stadium in Los Angeles 1975.
Was in „Rocketman“ die fiktive Aufbereitung von Elton Johns Leben war, ist in „Never Too Late“ das dokumentarische Pendant. Eltons Ehemann David Furnish sammelte noch nie zuvor gesehenes Archivmaterial und Tagebucheintragungen, um diesen Film zu machen. Elton selbst brachte seinen alten Songwriter-Partner Bernie Taupin mit dem Produzenten Andrew Watt und Duettpartnerin Brandi Carlile zusammen, um den Titelsong aufzunehmen.
KURIER: „Never Too Late“ ist für den Oscar nominiert. Das ist Ihre fünfte Nominierung in der Song-Kategorie, zweimal haben Sie gewonnen. Was bedeutet Ihnen diese Ehrung nach all den Erfolgen, die Sie hatten?
Elton John: Für mich wird das nie alt. Es ist immer eine große Ehre, unter den fünf nominierten Songs zu sein. Und ich freue mich so sehr für Brandi und für Andrew Watt, weil sie Co-Autoren sind und noch nie bei den Oscars waren. Das ist doch ein wunderbarer Anlass.
Das Album wird viele typische Elton-John-Fans überraschen, es ist nicht das, was man von Ihnen bisher kennt. Ist das auf die Zusammenarbeit mit Brandi Carlile zurückzuführen?
Ich musste ein Album machen, das mich in eine andere Richtung drängt und mich dazu bringt, spannendere Songs zu schreiben – nicht einfach nur ein weiteres Elton-John-Album. Ich brauchte Brandi, um mich dorthin zu bringen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.
Es ist der erste Songtext, den Brandi Carlile für Sie schrieb…
… und er sagt wirklich alles über das aus, was im Film passiert. Ich fand es sehr leicht, die Melodie zu schreiben, weil der Text so großartig war. Die Doku sollte ursprünglich „Farewell Yellow Brick Road“ heißen, genau wie die Tournee, aber ich fand das ein bisschen langweilig. Ich hatte allerdings keine Alternative – bis sie diesen Song schrieb. Wir änderten das Ende auf „Never Too Late“ und betitelten den Film genauso. Sie hat einfach alles verändert.
Wie war es, 20 Tage gemeinsam im Studio aufzunehmen?
Ich wollte in den letzten fünf, sechs Jahren unbedingt ein Album mit Brandi aufnehmen, weil ich sah, wie sie als Künstlerin immer besser wurde. Ich wusste, was sie für Joni Mitchell getan hat, und wollte sie noch weiter pushen. Vor ein paar Jahren schenkte ich ihr eine E-Gitarre und sagte: „Hey Brandi, fang an, darauf zu spielen. Entferne dich ein bisschen vom Folk und erweitere deine musikalischen Fähigkeiten.“
Sie haben sowohl Bernie Taupin als auch Andrew Watt erwähnt. Wie war die Zusammenarbeit mit allen dreien?
Von Anfang an war klar: Das ist ein Album von vier gleichberechtigten Partnern. Aber anfangs fiel es mir schwer, weil ich völlig erschöpft und müde war. Ich hatte so viele Selbstzweifel, was zu ein paar… na ja, wenn man sich das Video zur Single „Never Too Late“ anschaut, dann sieht man es. Ich war die ganze Zeit extrem angespannt, weil ich wollte, dass das Album richtig gut wird. Ehrlich gesagt, ging ich den anderen ein paar Tage lang ziemlich auf die Nerven mit meinem intensiven Perfektionismus. Als ich losließ, ging es ab wie ein Schnellzug. Wir schrieben in 20 bis 25 Tagen 14 Songs und behielten davon zehn.

Es ist immer überraschend, dass jemand wie Sie so viele Selbstzweifel hat. Wie haben Sie die überwunden?
Sehr langsam. Die anderen drei waren sehr geduldig, aber auch total verwundert. Sie haben David (Furnish, seinen Ehemann, Anm.) angerufen und gefragt: „Wir verstehen nicht, was los ist.“ Ich hatte wirklich Angst – große Angst, weil ich wollte, dass dieses Album etwas Besonderes wird. Die drei waren sehr verständnisvoll, aber gleichzeitig müssen sie gedacht haben: „Was zur Hölle ist mit ihm los?“
Was war der Grund?
Ich hasse es, Fehler zu machen. Ich war genervt von mir selbst, weil ich ein Perfektionist bin. Am Ende war alles gut. Wie Brandi sagt: Es ist menschlich, frustriert zu sein. Aber man muss weitermachen.
Was bedeutet Ihnen der Song, der ja so persönlich ist?
Er fasst mein ganzes Leben zusammen und erklärt, wer ich heute bin. Das komplette Bild – den Anfang, den Ruhm, das Elend, die Erholung. Ich war so glücklich, dass die Menschen das sehen konnten. Ich habe so viel in meinem Leben durchgemacht und bin auf der anderen Seite angekommen. Und zu sehen, dass die Menschen das wertschätzen – und auch die Tatsache, dass ich schwul bin, zwei wundervolle Söhne und einen Ehemann habe – und dass es möglich ist, dass homosexuelle Menschen Kinder auf die richtige Weise großziehen. Es war so, als würde ich sagen: „Hey Leute, wenn ihr das hier seht – schaut, was wir geschafft haben. Wir haben zwei großartige Kinder großgezogen.“
Es gibt eine Szene in der Doku, in der Sie mit Ihrem Sohn über FaceTime sprechen, dabei ein Erdnussbutter-Honig-Sandwich essen, und da ist diese innige Verbindung. Man sieht Sie, diese Naturgewalt des Pop, die sich in einen sanften Vater verwandelt ...
Ja, genau darum geht es in dem Song. Und genau darum ging es in meinem Leben. Während ich jetzt darüber spreche, macht der Song noch mehr Sinn. Er ist ein wunderbares Statement über mein Leben.
Was hat Sie an diesem Film am meisten berührt oder vielleicht sogar getroffen?
Ich reflektiere nicht viel, aber es war ein wunderbarer Auslöser, um darüber nachzudenken, welch schönes Resultat letztlich aus dem Chaos, den Schwierigkeiten und dem Unglück entstanden ist. Und wie mich das alles an einen Punkt unglaublichen Glücks geführt hat. Ich kann jetzt sagen: Ich habe es geschafft. Im Text heißt es: „You‘re an Iron Man, baby.“ Ich habe so viele Dinge in
meinem Leben durchgemacht, und habe sie überwunden. Ich bin ein Iron Man, Baby.
Letzte Worte?
Es ist nie zu spät, Wiedergutmachung zu leisten. Vergib dir selbst, vergib anderen. Mach weiter. Das ist das Beste, was du tun kannst. Es bringt nichts, mit Groll durchs Leben zu gehen.
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