Ein Roman gegen die Todesstrafe von Locker

Ein lächelnder Mann mit Brille und blonden Haaren vor grünem Hintergrund.
Überraschung: Ein ernst zu nehmender Roman gegen die Todesstrafe kommt völlig durchgeknallt daher. Christian Locker hat ihn geschrieben.

Schwarzau im Gebirge. Den Ort muss man sich merken. Der hat was, außer Rax und Schneeberg.

Der Wiener Maler und Landwirt Christian Locker hat sich dort für ein paar Wochen verkrochen und etwas Verrücktes geschrieben.

Er schrieb, dass die wahren Mächtigen in Österreich heimlich Gericht halten, ähnlich wie im Mittelalter, und in Graubach (das ist das Pseudonym für Schwarzau) werden die willkürlichen Todesurteile vollstreckt. Es wird gesteinigt, guilotiniert, Löwen bekommen Menschen zum Fraß vorgeworfen – die eingeladenen Gäste lachen dazu und speisen Kaviar und Gänseklein. Der Veltliner stammt von den besten heimischen Rieden.

Und die Weltreligionen sind durch Würdenträger vertreten.

Niemand findet etwas dabei. Im Gegenteil: größtes Vergnügen allseits!

Eigenen Angaben zufolge brauchte Christian Locker bei seiner Arbeit an "Einfach jeder" kaum alkoholische Getränke.

Verwandt

Das Buchcover von Christian Lockers „Einfach jeder“ zeigt stilisierte Menschen.

Es war der ehemalige KURIER-Theaterkritiker David Axmann, der sich für das Buch eingesetzt hatte. Deshalb soll er es sein, der hier die Verbindung zu einem der Größten des fantastischen Romans schafft:

"Während wir, erregt und entzückt, immer tiefer hineingezogen werden, wächst in uns der Verdacht, dass deren Verfasser – wiewohl er’s abstreitet – mit Leo Perutz verwandt sein muss."

"Einfach jeder" überrascht wie ein halluzinogener Pilz. Ein Mörder taucht zwischendurch als Arzt auf, dann als Polizist, dann als Ermordeter. Im Labyrinth eines Wiener Weinkellers explodiert eine Bombe, ein Wissenschaftler bildet sich ein, er müsse unbedingt jetzt sofort unters Fallbeil usw.

Und selbst wenn die beiden Hauptfiguren, die sich in die seltsame Geschichte irgendwie verirrt haben, 20, 30 Seiten lang beim Heurigen miteinander über Politik plaudern, ist das keineswegs langweilig.

Weil Locker nicht halblustig ist. Sondern ernsthaft.

Das ist ja das Besondere: "Einfach jeder" steht, so surreal alles wirkt, fest auf dem Boden der Wirklichkeit.

Es ist ein Buch gegen die Todesstrafe geworden (wobei es halt ein bissl dauert, bis es zum Punkt kommt). Geschrieben in einem Jahr, in dem laut Amnesty mindestens 676 Menschen in 20 Ländern hingerichtet wurden.

Ein längst verstorbener Scharfrichter schickt einen Appell gegen die Todesstrafe durch die Zeiten ... während ein angeblicher Humanist bei den Vollstreckungen "Bravo" ruft.

Muss man blind sein, um sich nicht verführen zu lassen? Darf man nicht sehen, um zu durchschauen?

Lesen (und sich wundern)!

Peter Pisa

KURIER-Wertung: **** von *****

Maurizio Maggiani - „Himmels- mechanik“

Das Cover des Buches „Himmelsmechanik“ von Maurizio Maggiani zeigt eine Landschaft mit Bergen und einem Haus.

Die hochschwangere Nita und ihr guter Freund Bresci, genannt "Omo nudo", haben sich mitten im August eine Pilgerfahrt in den Kopf gesetzt. Nita findet Blutwurst widerlich, doch sie lebt lange genug hier im eigenbrötlerischen Dorf in der toskanischen Garfagnana, um zu wissen: Es gehört sich, die Blutwurst, die ihr die Dorfbewohner mitgeben, dankbar anzunehmen. Denn das Stück Schweinskopf mit Hirn und lauwarmem Blut vermischt, mit Zucker und Nelken gesüßt, mit Knoblauch und Pfeffer desinfiziert und gut in einen Magenzipfel gedrückt, ist auch im Hochsommer das Beste, was man mit auf eine Reise nehmen kann. "Mit einer gut gemachten Blutwurst kannst du gehen, wohin du willst, ohne jemanden um etwas bitten zu müssen", schreibt Maurizio Maggiani in seinem Roman "Himmelsmechanik".

Er erzählt von einem Bergdorf zwischen Kastanienwäldern, wo Fabeln und Eigenwillige zu Hause sind. Etwa der "Omo Nudo", ein Mann mit Anarchismus im Blut. Als junger Mensch überlebte er das KZ Sachsenhausen, von wo aus er zu Fuß zurückkam, ständig frierend. Wieder daheim, verbringt der er die meiste Zeit nackt, weil ihm heiß ist. Er ist Schweinezüchter und würde gut zur alten Ziegenzüchterin, der als Witwe geborenen Santarellina passen. Doch die beiden reden ihr ganzes Leben nicht miteinander. Als die Santarellina stirbt, bietet der Omo Nudo ihr einen Platz in seinem Grab an, weil er dort sonst allein mit seiner Mutter wäre und das will er auf keinen Fall.

Maggianis magisches Geschichtenuniversum wird von schrulligen Dorfbewohnern gestaltet (der Autor zählt sich dazu), und durch Mythen angereichert. Er schreibt über dieses verschrobene Paradies, als sei es nicht von dieser Welt. Wo man an Sagen glaubt, inbrünstig Blutwurst kocht und exotische Pflanzen anbaut, die gar nicht in das steinige Bergdorf passen. Poetisch-komische Geschichten, in denen, gleich einer Palimpsest, Zeitgeschichte durchschimmert: Der Zweite Weltkrieg, das Bombenattentat von Bologna, Barack Obama.

Barbara Mader

KURIER-Wertung: ***** von *****

Daniel Woodrell - „Der Tod von Sweet Mister“

Das Cover des Romans „Der Tod von Sweet Mister“ von Daniel Woodrell zeigt einen Weg in der Landschaft.

Mutter und Sohn kauern auf dem Fußboden. Der Lebensgefährte der Frau hat ihr die Brustwarzen gedrückt und gedreht, bis sie zusammensackte. Den Kopf des 13-Jährigen hat er gepackt und gegen den Eiskasten geschleudert.

Man hört die Autotür.

Er ist weg.

Sagt der Sohn: "Ich denke, ich hol’ mal Eis."

Sagt die Mutter: "Nein, nein, Schätzchen – bleib sitzen. Ich hole Eis. Diesmal ist Mom dran mit Eisholen."

"Der Tod von Sweet Mister" macht sprachlos. Gut so, man würde sonst schreien, bis Nachbarn die Polizei rufen, die Psychiatrie verständigen usw.

Seine Mutter sagt "Sweet Mister" zum Buben. Der Mann im Haus meistens "Fettsack". Außer, er will etwas vom kleinen Shug. Oft will er, dass das Kind bei krebskranken Leuten ins Haus schleicht und ihnen die Medizin vom Nachtkastl stiehlt.

Wir stecken im Hochland im südlichen Missouri, in Armut und Dreck.

Shug ist so ein lieber Kerl. Seine Mutter, einst eine Südstaatenschönheit, ertränkt sich in Tee – wobei ihr Tee Cola und Rum ist.

Shug wird nicht, wie man aus dem Buchtitel schließen könnte, sterben. Der "Sweet Mister" in ihm ist am Ende tot. Er wird nicht länger zu den Guten gehören. Jetzt wird er nicht mehr Besitz sein, sondern besitzen: seine Mutter.

Diese Hölle wird vom Amerikaner Daniel Woodrell so lakonisch geschildert, als gehe es bloß ums Fegefeuer, und irgendwann kommt jemand Freundlicher und sagt: "Es reicht, jetzt geht’s nach oben." Aber niemand kommt, es geht weiter hinunter.

Der 59-jährige schreibt "Country noir". Trotz großer Finsternis ist alles klar. Johnny Cash könnte dazu letzte Lieder singen. Woodrell kommt zur Kriminacht (18. September) nach Wien.

Sein Roman "Winter’s Bone" war verfilmt und 2011 für vier Oscars nominiert worden. Dieses Buch gibt es ebenfalls im kleinen feinen Liebeskind Verlag. Liest man auch das, schreit man wirklich.

Peter Pisa

KURIER-Wertung: ***** von *****

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