Ein großes Festival, überschattet von einem großen Verlust

Von Denise Wendel-Poray
Das 77. Festival von Aix-en-Provence ist in diesem Jahr von Trauer geprägt: Nur zwei Monate vor Festivalbeginn war dessen visionärer Intendant Pierre Audi unerwartet verstorben. Sein Fehlen war bei allen Premieren zu spüren, wenngleich jene Qualitäten, für die er stets eingetreten war, spürbar waren: Inszenierungen voller Kühnheit, Grenzüberschreitung und emotionaler Unmittelbarkeit.
"Don Giovanni"
Die achte Produktion der Mozart-Oper seit der Festivalgründung 1948 beginnt mit einer stummen Szene: dem einsamen Sterben des Komturs an einem Herzinfarkt. Dann erklingen die ersten eisigen Akkorde – umso eindringlicher unter dem Dirigat von Sir Simon Rattle am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks.
Der englische Regisseur Robert Icke, erstmals im Opernfach tätig, zerlegt vertraute Erzählstrukturen und lässt die Grenzen zwischen Don Giovanni und dem Komtur verschwimmen – beide erscheinen als zwei zeitliche Inkarnationen derselben Figur.
Mit psychologischer wie moralischer Schärfe – darunter eine verstörende Begegnung zwischen Don Giovanni und einem kleinen Mädchen – erkundet die Inszenierung Themen wie Wahnsinn, Schuld und Perversion mit unerbittlicher Konsequenz. Eine karge Bühne und eine immersive Video-Sound-Gestaltung zeigen den Abstieg in den moralischen Verfall.
Andrè Schuen verkörpert einen düsteren Giovanni, der von Kontrolle Richtung Pathologie gleitet. Als Leporello ist Krzysztof Baczyk eine stimmlich dominante Figur und zugleich ein distanzierter moralischer Beobachter. Golda Schultz spielt Donna Anna nicht als Symbol verletzter Würde, sondern als Figur, die sich zu Giovanni hingezogen fühlt – getragen von stimmlicher Kraft und szenischer Präsenz. Magdalena Kožená hingegen wirkt als Elvira fehlbesetzt – eine Rolle, die ihr, wenn überhaupt, einmal lag, nun aber nicht mehr. Amitai Pati verleiht Don Ottavio vokale Reinheit und zurückhaltende Noblesse, während Madison Nonoa als Zerlina mit heller Stimme und einfühlsamer Ausdruckskraft einen der wenigen lichten Momente in einer ansonsten düsteren Atmosphäre bietet.
In einer finalen Wendung fordert Clive Bayley als alter Giovanni nicht etwa von einer Statue, sondern von sich selbst Reue ein. Beim Schlussapplaus wechselten sich nach der Premiere begeisterter Jubel und heftige Buhrufe ab – angemessen für eine Inszenierung, die mehr andeutete als erklärte und ein Unbehagen hinterließ.

„Billy Budd“
In der intimsten Spielstätte des Festivals, dem Théâtre du Jeu de Paume, wurde „The Story of Billy Budd, Sailor“ uraufgeführt – eine Kammerversion von Brittens Epos, die als stille Meditation über Erinnerung und verdrängtes Begehren daherkommt. Der britische Komponist Oliver Leith und der amerikanische Regisseur Ted Huffman reduzieren die Oper auf ihr Wesentliches: eine fragile, elementare Landschaft aus Sehnsucht, Scham und Verurteilung durch die Gesellschaft. Mit kleiner Besetzung und farbenreicher Instrumentation (Dirigent: Finnegan Downie Dear) rückt die Bearbeitung Brittens queere Thematik in den Vordergrund – mit gespenstischer Klarheit.
Christopher Sokolowski (Edward Vere), Ian Rucker (Billy Budd) und Joshua Bloom (Claggart) liefern prägnante, eindringliche Darstellungen.

„Louise“
In seiner radikalen Neuinszenierung von Gustave Charpentiers „Louise“ entkleidet Regisseur Christof Loy die Oper jeglicher Belle-Époque-Verzierungen und legt ein düsteres psychologisches Drama frei. In einem sterilen Warteraum angesiedelt, rückt die Inszenierung die toxische Vater-Tochter-Beziehung ins Zentrum, die in einer verheerenden finalen Konfrontation kulminiert.
Wer auch die Niki-de-Saint-Phalle-Ausstellung in Aix besucht – und ihre Biografie kennt, ebenfalls geprägt durch väterlichen Missbrauch – erkennt in „Louise“ vielleicht ein erschütternd aktuelles Porträt von unterdrücktem Schmerz und verletztem Vertrauen.
In der Titelrolle überzeugt Elsa Dreisig mit ihrer Transformation vom kindlichen Gehorsam hin zum psychischen Zusammenbruch. Ihr Vater, gesungen von Nicolas Courjal, entpuppt sich zusehends nicht als Beschützer, sondern als Bedroher. Unter der Leitung des Dirigenten Giacomo Sagripanti lässt das Orchester der Opéra de Lyon Charpentiers üppige Partitur mit kontrollierter Zurückhaltung erklingen – darunter schwelt die emotionale Gewalt.

„The Nine Jewelled“
Dieser Abend markiert ein neues Kapitel in der Zusammenarbeit zwischen der LUMA Foundation und dem Festival von Aix. Das von Pierre Audi in Auftrag gegebene Werk vereinte drei herausragende Künstler: den Regisseur Peter Sellars, die äthiopisch-amerikanische Künstlerin Julie Mehretu und die indisch-amerikanische Sängerin Ganavya Doraiswamy. Wie von Sellars konzipiert, ist es ein „Abend der Gelassenheit, in dem sich eine Wahrheit leise offenbaren wird – ohne sich selbst anzukündigen“.
Inspiriert von einer buddhistischen Parabel, steht im Zentrum ein leuchtender Hirsch, der Mitgefühl trotz Verrates verkörpert. Doraiswamy eröffnet den Abend mit der Erzählung des Hirschen und seiner neun juwelenbesetzten Male. Mehrethus abstrakte Projektionen atmen mit der Musik und nehmen im Licht einen juwelengleichen Schimmer an. Der Abend endet mit einem gemeinsamen „Om“ der Besucher – eher verlegen als meditativ. Eine Wahrheit offenbarte sich tatsächlich: Wir sind verletzlich, unfähig zur Harmonie und zutiefst individualistisch.

„La Calisto“
Der unbestrittene Höhepunkt des Festivals ist die Neuproduktion von Francesco Cavallis Oper „La Calisto“ aus dem Jahr 1651, die als fünfte Premiere das erste Festivalwochenende abschloss. Nach Tagen drückender Hitze lag Spannung in der nun kühleren Abendluft über dem Théâtre de l’Archevêché. Beim Aufgehen des Vorhangs wurde die Stille nicht von Musik, sondern vom lauten Gurren zweier Tauben durchbrochen, die flatternd durch die Luft kreisten. Dann begann die Musik: Cavallis Partitur zieht das Publikum sofort in ihren Bann.
In „La Calisto“ nehmen Götter menschliche Gestalt an, Himmelskörper offenbaren irdische Schwächen. Unter der Leitung von Sébastien Daucé musiziert das Ensemble Correspondances mit Finesse, Vitalität und klanglicher Nuancierung. Regisseurin Jetske Mijnssen inszeniert das Werk als emotionale Studie über Verführung, Identität und Konsequenz. Mit Bühnenbildner Ben Baur und Kostümbildner Klaus Bruns entwarf sie einen elegant getäfelten Raum.
Die Szenenwechsel vollziehen sich auf einer drehbaren Plattform. Die Kostüme – gepuderte Seide, Pastelltöne, weiche Silhouetten – erinnerten an Watteaus „L’Embarquement pour Cythère“: eine Welt zwischen Künstlichkeit und Sehnsucht. Diese Calisto versucht nicht, aktualisiert zu wirken. Vielmehr legte Mijnssen das Zeitgenössische im Werk selbst frei: ein fluides, destabilisiertes Verständnis von Geschlecht und Macht.
Cavallis Libretto – basierend auf Ovid – ist von Natur aus subversiv: Jupiter verwandelt sich in eine Frau, um Calisto zu verführen; Diana wird von beiden Geschlechtern begehrt; die Grenzen zwischen männlich und weiblich, göttlich und menschlich, Jäger und Gejagtem verschwimmen. Anstatt ein Konzept aufzupfropfen, enthüllt die Inszenierung die Mehrdeutigkeit der Vorlage: Verführung als Maskerade, Liebe als Verwandlung.
Lauranne Oliva ist als Calisto leuchtend und verletzlich zugleich – mit offener Bühnenpräsenz und strahlender Stimme. Alex Rosen verleiht Jupiter Autorität und verschmitzten Charme. Giuseppina Bridelli gestaltet Diana stimmlich opulent und psychologisch vielschichtig. Countertenor Paul-Antoine Bénos-Djian verleiht dem liebestrunkenen Endimione emotionale Tiefe und Wärme. Als Linfea brilliert Zachary Wilder mit humorvoller Energie und stilistischem Feingefühl – und spielt die geschlechtliche Ambivalenz der Figur mit charmanter Kühnheit aus.
Zusammen mit den anderen Premieren dieser Saison bestätigt „La Calisto“ die moralische Komplexität und künstlerische Unerschrockenheit, die Pierre Audis Vermächtnis in Aix prägen. Durch Konfrontation und Mitgefühl, durch Fragmentierung und Form, verwandelt das Festival Trauer in Kunst.
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