Noch nie wurde so viel fotografiert wie heute, und noch nie war ein so großer Teil der erzeugten Bilder redundant: Schräge Motive, Perspektiven, Filter, Formate oder Serien – allesamt Stilmittel, die einmal als Merkmal der fotografischen Avantgarde galten – sind heute im großen All-you-can-eat-Buffet für jeden Knipser einsetzbar.
Jene, die heute noch im Sinne des Theoretikers Vilém Flusser „informative“ Bilder machen wollen, müssen sich das Avantgarde-Motto des Raumschiffs Enterprise zu eigen machen und dorthin gehen, „wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist“. Zumindest keiner mit Kamera.
Der Tiroler Gregor Sailer, dessen Werk nun in einer tollen Überblicksschau im Kunst Haus Wien ausgebreitet wird (bis 19. 2. 2023), ist in diesem Sinn ein Teil der rar gewordenen künstlerischen Vorhut: Seine Bilder zeigen Orte, die der Durchschnittsperson nicht zugänglich sind – militärische Sperrgebiete, abgeschottete Siedlungen, entlegene Arktisregionen. Sailers Drang, hier Fotos zu machen, rührt aber nicht nur aus reinem Forschergeist oder der ästhetischen Faszination solcher Plätze, sondern auch daher, dass sich aus ihnen gesellschaftliche, politische oder ökologische Entwicklungen ablesen lassen.
Polare Seidenstraße
Die jüngste der in der Schau gezeigten Serien nennt sich „The Polar Silk Road“ und widmet sich jenen Regionen, über die mittelfristig – nach dem bis 2050 zu erwartenden Abschmelzen großer Teile des arktischen Eisschildes – ein substanzieller Teil des globalen Warenverkehrs laufen soll. Anrainerstaaten haben diese unwirtliche Gegend unter Kontrolle, bauen Beobachtungsstationen und militärische Stützpunkte im Nirgendwo. Sailer brauchte mehrere Jahre, um die Plätze ausfindig zu machen, Genehmigungen einzuholen und die Orte zu bereisen: Das Anfertigen der Fotos, sagt er, ist eigentlich nur ein winziger Teil seiner Arbeit.
Als Künstler sei er dabei unverdächtiger als ein normaler Journalist, erklärt Sailer – zumal er bis heute mit einer analogen Mittelformatkamera operiert: „Als Fotograf mit Tuch überm Kopf wird man oft nicht ganz ernst genommen“. Brenzlige Situationen gab es bei seinen Expeditionen dennoch immer wieder.
Nur die Ruhe
Ästhetisch vermeidet Sailer allerdings jegliches Drama: Seine Bilder sind betont ruhig, menschenleer und fordern ihre Betrachter wiederholt auf, sich selbst zu fragen, was sie eigentlich sehen.
Die Wiener Schau ermöglicht es, die Entwicklung in der Ästhetik des 1980 geborenen Fotografen nachzuvollziehen: Schon während seines Studiums in Dortmund zog es Sailer in den verborgenen „Subraum“ der Stadt – im Bau befindliche U-Bahn-Schächte oder die Fluchten von Bibliotheksmagazinen waren hier seine Motive. Auch Industrie-Architekturen wie eine aufgelassene Koks-Fabrik hatten es Sailer angetan. Den Einfluss des Duos Bernd und Hilla Becher, die durch ihre Lehrtätigkeit in Düsseldorf eine ganze Fotografen-Generation geprägt hatten, leugnet Sailer nicht – dennoch ging er mit seinem Forscherdrang letztlich andere Wege.
Auch wenn einem der Begriff „aktivistisch“ nicht gleich in den Sinn kommt, ist die politische Stoßrichtung der Arbeit unübersehbar: Sailer zeigt, wie sich Reiche im Nordelta-Bezirk bei Buenos Aires in einer der größten bewachten Wohnstädte einigeln, während Flüchtlinge in abgeschotteten Dörfern in der Nordsahara untergebracht werden. Er zeigt, wie US-Militärs pseudo-arabische Architektur in der Wüste von Nevada bauen, um den Straßenkampf zu trainieren, während am schwedischen „AstaZero“-Gelände eine menschenleere Kulissen-Stadt dafür dient, selbstfahrende Autosysteme zu perfektionieren.
Diese Bilder rütteln anders auf, als wir es von Pressefotos gewohnt sind: Nicht ihr vordergründiger Inhalt, sondern das Ausmaß dessen, was wir nicht sehen, sorgt hier für den Schockeffekt.
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