Egon Schiele ist nicht das Maß aller Dinge

Wilhelm Lehmbruck, der Gestürzte, 1915
Mit Wilhelm Lehmbruck und Berlinde de Bruyckere erweitert der neue Direktor des Leopold Museums den Horizont des Hauses

Es ist der erste große Ausstellungszyklus in der Ära des neuen künstlerischen Direktors Hans-Peter Wipplinger, und natürlich sollte er eine programmatische Ansage sein: Das Leopold Museum, gemeinhin als „das Haus für Schiele“ im Bewusstsein verankert, will sein angestammtes Terrain nicht verlassen, zugleich aber auch Brücken zu neuen Epochen bauen.

Den zwei Ausstellungen, die nun auf der Eingangsebene und im ersten Untergeschoß des Hauses zu sehen sind, gelingt der Spagat ausnehmend gut: Der Hausheilige Egon Schiele ist dort vordergründig nur am Rande präsent, der Geist seines Werks und seiner Zeit weht aber spürbar durch die Säle.

Voller Körpereinsatz

Den deutschen Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881– 1919) hatte Schiele nie getroffen – man weiß aber aus Briefen, dass der Österreicher seinen Kollegen bereits hoch schätzte, als dieser noch nicht als Fackelträger der expressionistischen Skulptur gefeiert wurde. 1912 waren Werke beider Künstler im Folkwang Museum in Hagen/D ausgestellt.

Egon Schiele ist nicht das Maß aller Dinge
Der 37-jährige Wilhelm Lehmbruck
Die Retrospektive im Leopold Museum zeigt nun zahlreiche Berührungspunkte auf. Lehmbruck, der sich 1919 von Liebeskummer und Syphilis gezeichnet das Leben nahm, hatte innerhalb von rund zehn Jahren eine radikal neue Skulpturen-Sprache entwickelt: Mit extrem gelängten Gliedmaßen, verrenkten Haltungen und dem bewusste Einsatz fragmentierter Körper nutzte er ähnliche Stilmittel wie Schiele in seinen Aquarellen und Zeichnungen.

Die Schau, die Lehmbruck-Hauptwerke wie die „Kniende“ (1911), den „Emporsteigenden Jüngling“ (1913/’14) oder den „Gestürzten“ (1915) jeweils mit einem Echoraum von Referenzwerken umgibt, kennt Schiele aber nur als eine mögliche Verwandtschaft: Mit Zeichnungen von Brancusi und Modigliani oder Kleinplastiken von Rodin ergibt sich hier das Panoptikum einer Zeit, in der intensiv darüber sinniert wurde, wie man dem Geistigen eine Form geben kann. Gern nahm man damals auf das Zeitalter der Gotik Bezug: „Alles ist radikale Verkündigung des Leidens und der Fleischesschwäche. Erst der gotische Geschmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische“, heißt es in Thomas Manns „Zauberberg“ (1924).

Blut & Wunden

Egon Schiele ist nicht das Maß aller Dinge
Berlinde de Bruyckere, Pieta, 2007-'08,
Im Werk der Belgierin Berlinde de Bruyckere setzt sich diese „gotische“ Sensibilität direkt fort: In ihren aus Wachs geformten Figuren, die auf unheimliche Weise „echt“ wirken, verschmelzen Abgüsse menschlicher Körperteile mit solchen von Tieren und Pflanzen und mit unbelebten Objekten; auch eine Wolldecke, über einen Körper gewickelt, kann bei de Bruyckere „verwundet“ sein.

Für Werke wie ihre „Pietá“ (2008, Bild oben) nennt die Künstlerin dazu den spätgotischen Maler Rogier van der Weyden als Referenz: Da wie dort gehe es darum, mithilfe der Kunst Mit-Leid, Mitgefühl zu entwickeln. Im Museum bleibt diese Idee nicht abstrakt – sie ist spürbar.

Info

Der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) ist im Kanon der Kunstgeschichte fest verankert, in Österreich kaum bekannt: Zuletzt war 1963 eine Ausstellung in Wien zu sehen. Die Werkschau, die in Kooperation mit dem Lehmbruck-Museum Duisburg entstand, ist bis 4. Juli zu sehen, der Katalog kostet 29,90 €.

Berlinde de Bruyckere, 1964 geboren, vertrat Belgien 2013 auf der Venedig-Biennale. 2015 stellte sie im Kunsthaus Bregenz aus. Die Schau im Leopold Museum ist bis 5. September zu sehen, der Katalog kostet 24,90 €.

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