Das Resümee im Buch: „Es war eine schöne Zeit.“ Eine Stelle, die sich als Schlüsselsatz hinstellt, ist aber auch: „Die sechziger Jahre waren überhaupt eine merkwürdige Zeit: Einerseits Verschwendungssucht bei Küchengeräten, andrerseits Knausrigkeit bei Gefühlen. Besonders Kindern gegenüber.“ Was überwiegt Ihrer Meinung nach – das Schöne oder das Merkwürdige?
Ich habe oft überlegt, was an meiner Kindheit eigentlich schief gelaufen ist. Ich wurde nie geschlagen (auch keine Ohrfeige!), wir hatten keinen Mangel, sind in Urlaub gefahren, niemand hat mich gemobbt ... Im Laufe des Schreibens bin ich draufgekommen, dass die Kindheit an sich eine schiefe Sache ist. Die Welt zu entschlüsseln, schwierige Rätsel im Verhalten der Menschen zu lösen ist mühselige Puzzlearbeit, besonders in den 60er Jahren, wo über das meiste geschwiegen wurde. Da die meisten Rätsel trotz alledem geknackt wurden, hat sich herausgestellt, dass meine Kindheit gar nicht schief gelaufen ist, sondern eine schöne Zeit war.
Im Titel kommen Vater und Mutter gleichberechtigt neben dem Kind vor; aber im Buch bleiben die Eltern Figuren, die oft nur dann auftauchen, wenn es Ärger gegeben hat oder geben wird. Schade eigentlich, oder?
Ich glaube, dass meine Eltern im Vergleich zu anderen Eltern dieser Generation ziemlich viel mit mir unternommen haben. Die Hierarchie war durch den Altersunterschied vorgegeben. Meine Eltern waren sogar besonders alte Eltern. Der Vorteil einer gewissen Distanz zwischen Eltern und Kindern ist vielleicht, dass die Kinder mehr Spielraum haben, sich jenseits der Erwachsenenwelt auszuprobieren. Heute sind wahrscheinlich die Rasenmäher- und Helikoptereltern das größere Problem.
In der Eltern-Kind-Beziehung hat sich vieles ins Gegenteil verkehrt. Und dieses im Buch beschriebene unabhängige, freie Nachmittagsleben der Kinder im Hof, auf der Straße hat man sich zumindest in der Stadt abgewöhnt. Ist das ein Verlust für die Kinder?
Ich weiß von meiner Tochter, die ihre ersten sieben Lebensjahre in Berlin verbracht hat, dass sie und ihre Freunde immer einen Weg gefunden haben, der Erwachsenenwelt zu entwischen. Das hat sie mir erst viel später erzählt. Gott sei Dank, ich hätte mich zu Tode gesorgt, wenn ich gewusst hätte, dass sie schon im Kinderladen heimlich während der „Ruhezeit“ – offensichtlich hat hauptsächlich der Kindergärtner geruht – ein Gitter auf dem Boden vor dem gegenüber liegenden Haus aufgehoben, hinuntergestiegen und das Haus durch den Keller verlassen haben, um einen Rundgang um den Häuserblock zu machen.
Die Erzählerin geht sehr behutsam mit den Episoden um, sie lässt diese oft für sich stehen, ohne sich groß einzumischen. Ist das, um dem Kindeserleben gegenüber fair zu sein?
Ich bin überhaupt eine Gegnerin des Interpretierens anderer Menschen. Mein Ziel ist, die Menschen und somit auch die Figuren in meinen Romanen sein zu lassen, wie sie sind. Das Ziel ist wahrscheinlich unerreichbar.
Wie ist es Ihnen im Corona-Jahr ergangen?
Im ersten Lockdown habe ich große Teile dieses Buches geschrieben. Ich war erleichtert, dass jetzt alle, nicht nur ich, zu Hause sitzen, und musste nicht daran denken, was alle anderen alles unternehmen. Mit der Zeit ist es jedoch mühsam geworden. Da fehlen die Anregungen von außen, Veranstaltungen, Ausstellungen, meine Tochter, die in Glasgow lebt und nicht zu Besuch kommen kann. Ein kleiner Trost sind unsere Zoom-Gespräche.
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