Die Kunst hinter dem Reality-TV
Drum püfe, wer sich ewig bindet: Friedrich Schillers Gedicht "Das Lied von der Glocke" findet in der türkischen Reality-Soap "Esra Erol" kein Gehör. Auch dort dreht sich alles ums Heiraten. Ewig aneinander gebunden werden dabei jedoch Paare, die sich zuvor noch nie gesehen haben. Die Reality ist bitterer Ernst. Und doch nicht die Wirklichkeit. Sebahat Kayan setzt sich in ihrem Buch "Menschenversuche im Fernsehen" mit dem TV-Format auseinander, in dem die Teilnehmer ihrer Privatsphäre, Freiheit und Selbstkontrolle freiwillig aufgeben. Via Mail erzählt die Autorin mehr über Ihre Beweggründe und erklärt, weshalb das Reality-TV nach wie vor boomt.
Kurier: Das Format des "Reality-TV“ gehört mittlerweile wie die Nachrichten, zum alltäglichen Fernsehprogramm. Was hat Sie dazu bewegt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben?
Mag. Kayan: Mein Anliegen war es, sowohl für mich als auch für den Leser, gesellschaftliche und medienkommunikative Systeme transparenter und verständlicher zu machen. Ausgehend von der Frage: Warum besteht in der Gesellschaft die Notwendigkeit für das Inszenierte, und welchen Nutzen kann man daraus ziehen, setzte ich mir das Postulat dieser Fragestellung nachzugehen. In meinem Buch untersuche ich jene TV-Formate, in denen die TeilnehmerInnen jedes Fünkchen ihrer Privatsphäre Intimität, Freiheit und Selbstkontrolle freiwillig aufgeben um ihre Geschichten breitenwirksam zu erzählen.
Wie haben sich Reality-Shows in den letzten Jahren verändert? Von "Big Brother" zu "Biggest Loser" scheint es ein weiter Weg.
Big Brother entstand nach einer Idee von John De Mol im Jahre 1999 und eroberte von den Niederlanden aus die Welt. Mittlerweile gibt es zigtausende Versionen davon, sei es "Biggest-Loser", "Der Bachelor", "Changing Rooms" usw. Das Konzept ist eine Kombination aus den Faktoren Spiel, Soap-Opera und Dokumentation. Die Idee dahinter ist die des Voyeurismus, und das erhält man in allen Formaten.
Was verstehen Sie unter "
Reality TV"?
Reality-Formate versprechen die tatsächlichen Gegebenheiten der Umwelt unverzerrt und direkt an den Rezipienten weiterzugeben. Im Widerspruch dazu steht natürlich, dass kein Individuum, und daher umso weniger ein elektronisches Medium, der Anforderung nach hunderprozentiger Wirklichkeitsdarstellung und Authenzität gerecht werden kann. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich Realität und Fiktion im TV- Angebot nicht trennen lassen. Man darf nicht dazu neigen, "echte" Abläufe von "manipulativen" Eingriffen zu unterscheiden, denn hier werden Wirklichkeit und Fiktion miteinander verschmolzen.
Das Realityformat, welches Sie verfolgt hatten, handelte davon wie sich Leute, wie beim altbekannten Herzblatt kennenlernen aber dann ja auch wirklich in der Serie heiraten ohne sich zu kennen. Ist das alles echt?
Ja, die Teilnehmer lernen sich in der Sendung kennen, und heiraten dann auch vor laufender Kamera. Wie lange die eingegangene Ehe dann tatsächlich hält erfährt der Zuseher nicht, aber die Illusion des Produktes "HOCH-zeit", wird in der TV-Show sehr medienwirksam inszeniert. Die Shows, in denen geheiratet wird, genießen eine überwältigende Zustimmung und Popularität seitens der türkischen Bevölkerung. Der Grund dafür liegt überwiegend in der sehr konservativen Art und Weise, wie sie produziert werden. Sie appellieren generell an die türkische Bevölkerung, sowohl innerhalb als auch außerhalb der urbanen Metropole Istanbul, in denen die traditionellen Werte noch stärker gelebt werden. Unter diesem Aspekt hat die „türkische Direktion der Religion“ die Ehen, die in diesen Programmen geschlossen werden, gleichzeitig als eine neue Form der arrangierten Ehe proklamiert und gefeiert. Somit leben die teilnehmenden Kandidaten, teilweise bewusst und unbewusst, einen "Alltag im Ausnahmezustand", und nehmen an einer stark modifizierten Alltagswirklichkeit teil, die nicht der "der Welt draußen" entspricht.
Sie sind für die Arbeit eigens in die
Türkei nach
Istanbul gereist, warum?
Die von mir untersuchten TV-Programme werden in Istanbul gedreht und produziert, deswegen war es naheliegend vor Ort eine Teilnehmende Beobachtung zu starten, um ein besseres Gefühl für die TV-Formate und die türkische Medienlandschaft zu bekommen. Ich erhielt die Möglichkeit, hinter die Kulissen der Produktion und der Programme zu blicken und bekam somit die Chance, mit den Teilnehmern persönlich über ihre Motivation(en) zu reden.
Haben Sie das Gefühl, dass sich die türkischen Fernsehformate von den österreichischen/deutschen unterscheiden?
Ja, definitiv. Eine wichtige Rolle bei der Rezeption spielt die historische Entwicklung des Landes selber. Die Türkei hat sich historisch, von dem multi-religiösen Osmanischen Reich zu einer sekulär geprägten Republik, und seit 10 Jahren zurück zu einer konservativen islamischen Nation entwickelt.
Die Leute, die zu diesen Sendungen gehen, wissen doch was für einer öffentlichen Aufmerksamkeit und auch Bloßstellung sie sich aussetzen; und dies hat nicht immer nur einen positiven Nachruf – warum tun sie dies dennoch?
Diese Show ist nicht nur eine "Verkupplungsshow", sondern sie zeigt auch die ökonomischen Verhältnisse, in denen das türkische Volk lebt. In der Tat zeigt das Programm vor allem zwei Realitäten in Bezug darauf, warum das türkische Volk die Ehe sucht und wie die Ehe zu einem mediatisierten, oberflächlichen Gegenstand verkommen ist. Die Ehe wird primär zu einem Vehikel zur Steigerung des ökonomischen Kapitals, vor allem für ältere Menschen, die keinen Zugang zur Pflegehilfe haben, wird sie zu einer Versorgungsquelle und einem wirtschaftlichen Bündnis. Bereits nach den ersten Aussagen der Kandidaten, wenn die Moderatorin anfängt Fragen bezüglich der Qualifikation oder Vorstellung nach dem idealen Ehepartner zu stellen, beginnt die Fantasie nach dem Idealpartner zu bröckeln und es klingt alles sehr oberflächlich. Aussagen wie: "Ich suche einen Vater für meine Kinder", "einen reichen Mann mit einem schönen Haus", zeigen, dass es sich nicht ausschließlich um emotionale Beweggründen handeln kann. Die Notwendigkeit, sowohl eine finanzielle als auch eine körperliche Unterstützung zu erhalten, kristallisiert sich als einer der wichtigsten Gründe für die Ehe heraus.
Wie gehen die Verantwortlichen (sprich Producer, Regisseure etc.) mit den Protagonisten dieser Show um?
Die Show versucht ein Gefühl der Intimität in einem nicht intimen Setting zu erzeugen, indem der ModeratorIn die vermeintliche Rolle des Therapeuten, des Beichtvaters und des Seelsorgers übernimmt. Die gleiche Rolle übernehmen auch die Produzenten, die den TeilnehmerINNEN nach außen hin das Gefühl geben, für sie da zu sein. Aber natürlich gibt es den ökonomischen Wert dieser Formate, die sich aus Sponsoring, Product Placement, Telefonanrufaktionen und traditioneller Werbung finanzieren.
Werden die Protagonisten extra in eine Richtung gepusht und auch mit Absicht in ein bestimmtes Licht gestellt?
Es herrscht eine grundlegende Dynamik zwischen den Gästen, dem Publikum, dem Moderator, den Produzenten und Werbebetreibern der Programme. Die "normalen" Menschen aus dem "wirklichen" Leben fungieren unter anderem als Marionetten der Produzenten, indem ihnen akribisch vorgegeben wird, wie sie sich zu präsentieren haben. Somit werden die Teilnehmer motiviert als Schauspieler oder Schaupielerin zu agieren, ohne sich in jegliche Kosten zu stürzen.
Wieso glauben Sie, erfreuen sich Reality-Formate so ungebrochener Beliebtheit?
Reality-TV heißt Grenzen überschreiten, neue Mischformen aus Information und Unterhaltung, Öffentlichkeit und Privatheit, Authentizität und Inszenierung, Fiktion und Realität, Alltag und Exotik, Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem zu finden. Und genau das ist das Erfolgsprinzip dieser Programme: Sie überschreiten Grenzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Grenzüberschreitung geschieht auf allen Ebenen des Medienprozesses. Demnach ist das Spektrum des Reality-TV sehr breit gefächert, aber deutlich wird zumindest, dass das Alltägliche in Zusammenhang mit Reality-TV nicht gefragt ist, sondern die Abweichung von der Norm, das Außergewöhnliche wird zum Medienereignis.
Gibt es neben dem bekannten Effekt dass man sich den Dargestellten gegenüber besser fühlt auch noch andere Aspekte?
Der primäre Aspekt ist natürlich der Effekt der Identifikation mit den TeilnehmerInnen, das heißt die Zuseher sehen in den Kandidaten einen Teil von sich selber. Sei es ein Teil den sie an sich mögen, gerne hätten oder auch verabscheuen sei dahingestellt. Darüber hinaus hat sich die Eigendynamik der Partizipation und Verantwortung gegenüber dem Gezeigten empirisch herausgestellt. So haben während der Show Zuseher angerufen, wenn sie Kandidaten kannten und sie Unwahrheiten über sich erzählten. Z.B eine Frau proklamierte während der Show sie sei eine Jungfrau, worauf hin ihr Ex-Freund in der Show angerufen hat, und lautstark gegenteiliges proklamiert hat.
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