Goldener Löwe für italienischen Dokumentarfilm

Abschiede können äußerst triumphal sein. Tsai Ming-liang, in Venedig für „Jiaoyou“ („Stray Dogs“) mit dem zweithöchsten Preis – dem Großen Preis der Jury – prämiert, will eigentlich kein Kino mehr machen: „Ich bin einfach sehr, sehr müde. Ich würde mein Schicksal gerne bitten, mich keine Filme mehr machen zu lassen. Aber in der Vergangenheit hat es unglücklicherweise immer wieder gefordert, dass ich neue Filme drehe. Man wird sehen“.
Als Tsai Ming-liang das einen Tag vor der Preisvergabe beim KURIER-Interview sagt, sitzt er noch entspannt auf der Terrasse des Grand Hotel Excelsior. Sein Film forderte das Publikum in den letzten Festivaltagen noch einmal heraus. Erzählt wird darin von einer Kleinfamilie, die in den verfallenen Hinterlassenschaften der Taiwanesischen Moderne lebt, aber der Film selbst ist wie eine Ruine: fast ohne Erzählung, mit minutenlangen Einstellungen.
Tsai Ming-liang konnte im Finale des Festivals noch am ehesten ästhetische Kontroversen auslösen.
Die Gewinner der 70. Filmfestspiele in Venedig
Für Diskussionen, allerdings erst nach der Preisverleihung, sorgte auch Gianfranco Rosi. Den Goldenen Löwen für seine Doku „Sacro Gra“, die eine Reihe von Menschen an der Römischen Ringautobahn porträtiert, hatte niemand erwartet.
In der Kombination mit Tsai Ming-liangs experimentellem Film wirkte das wie das Ergebnis einer unversöhnlichen Verhandlung in der neunköpfigen Jury unter der Leitung von Bernardo Bertolucci.
Die Gewinner der letzten Jahre
Fehlende Radikalität
Den weiten Ausblick, das radikale Kino vermisste man in Alberto Barberas Wettbewerbsprogrammierung oft, auch das mag diesen Goldenen Löwen erklären. Die Herbstfilme dieses Jahres blieben echte Exzesse weitgehend schuldig. Lange schien es als würden britische Regisseure den Festivaljahrgang mit einfallsreichem Qualitätskino dominieren.
Neben Stephen Frears Tragikomödie „Philomena“ (am Ende nur mit einem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet) ließ etwa Jonathan Glazer in „Under The Skin“Scarlett Johansson als Alien in menschliche Haut schlüpfen und beobachtet abwechselnd hyperstilisiert und dann wieder extrem dokumentarisch, wie sie im regnerischen Schottland mitleidlos auf Menschenjagd geht.
Den Preis für die beste Regie ging statt dessen an ein stilisiertes Missbrauchsdrama aus Griechenland: „Miss Violence“ von Alexandros Avranas, der mit seinem Hauptakteur Themis Panou ausgezeichnet wurde.
Gewalt und extrem gesteigertes Formbewusstsein fand sich auch in zwei anderen preiswürdigen Wettbewerbsfilmen. Xavier Dolan, 24 Jahre altes Regiewunderkind aus Kanada, verschränkte in „Tom à la ferme“ Hitchcocksche Eleganz mit einer polysexuellen Leidenschaftsgeschichte rund um das Begräbnis eines jungen Mannes in der Provinz.
Die Wettbewerbsfilme 2013
Verlierer
Dolan war mit seinem Drama, das er mit tiefschwarzem Humor vorantrieb, der große Verlierer des Festivals. Er durfte sich nur über einen Preis des Internationalen Filmkritikerverbandes FIPRESCI freuen.
Dafür regierte im deutschen Kleinstadtuniversum der absolute Ernst: Philip Grönings „Die Frau des Polizisten“ übergab die darin geschilderten Familienqualen in sauber voneinander abgelöste Kapiteln dem Publikum zur Neumontage.
Der Jury war das immerhin ein Spezialpreis wert.
Die Jury 2013
Bereits vor der großen Gala in der Sala Grande, in der am Samstag Abend das Festival von Venedig mit der Bekanntgabe der diesjährigen Preisträger zu Ende ging, stand ein Goldener Löwe fest.
William Friedkin (78), Regisseur von Filmen wie „Der Exorzist“ oder „French Connection“ wurde am Lido mit dem Preis fürs Lebenswerk ausgezeichnet.
Für seinen Galaabend hatte sich Friedkin seinen Film „Atemlos vor Angst“ (1977) ausgesucht, mit Roy Scheider in der Hauptrolle, der eine Ladung Nitroglyzerin auf unebenen Urwaldwegen zu einer brennenden Ölquelle bringen muss. Für Friedkin ist das ein Modell für die Konflikte der Gegenwart (in der sich Groß- und Mittelmächte mit der gegenseitigen Zerstörung bedrohen) wie er in Venedig kommentierte.
Friedkin feierte seine größten Erfolge in einer Ära, in der das klassische Hollywoodkino durch neue Erzählweisen herausgefordert wurde. Ein Umschwung, vergleichbar in seiner Dramatik mit den gegenwärtigen Umwälzungen der Medienszene. Bei der Pressekonferenz blieb Friedkin abgeklärter Realist: „Alles implodiert irgendwann. Sogar das antike Rom“, sagte er. „Junge Leute können heute etwas machen, was ich nie konnte. Sie können im Laden eine Digitalkamera kaufen, ihre eigenen Werke schaffen und sie auf ihre Webseite packen. Aber erst, wenn das erfolgreich ist, werden die Studios in echte Schwierigkeiten geraten. Gegenwärtig ist es immer noch wie in einem großen Casino, in dem alles auf eine Zahl, auf eine Karte gesetzt wird. Das ist Hollywood heute.“
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