Der Vagabund als Gentleman

Charlie Chaplin sitzt auf Rollschuhen und hält einen Stock in der Hand.
Vor 100 Jahren schuf der Schauspieler die unsterbliche Kultfigur des "Tramp".

Es ist die berühmteste Figur, die das Kino je hervorbrachte. Wer aber annimmt, dass der „Tramp“ das Ergebnis langer Planungen war, irrt sich. Der gegen die feindliche Umwelt antretende Vagabund entstand innerhalb weniger Minuten, in denen der noch unbekannte Charlie Chaplin in einem Hollywoodstudio ein paar zufällig herumliegende Kleidungsstücke und Requisiten an sich nahm und für Dreharbeiten verwendete. Das war vor genau 100 Jahren.

Charles Spencer Chaplin war 24 Jahre alt und mit einer englischen Theatertruppe auf Tournee durch die USA. Doch weder Stück noch Darsteller hatten Erfolg, weshalb er im September 1913 schweren Herzens für 150 Dollar Wochenlohn bei den „Keystone Filmstudios“ in Hollywood anheuerte. Schweren Herzens, weil Filmschauspieler damals weit weniger Ansehen genossen als ihre Kollegen vom Theater.

Wie am Fließband

Chaplin war dann auch schockiert von den Dreharbeiten für die kurzen Stummfilme, die oft an einem Nachmittag, lieblos und ohne jeden künstlerischen Anspruch wie am Fließband heruntergekurbelt wurden. Im Jänner 1914 sollte er wieder eine ganze sechs Minuten dauernde Komödie drehen, diesmal unter dem Titel „Kid Auto Races at Venice“. Chaplin überlegte, wie er eine Figur schaffen könnte, mit der er sich vom Niveau des bisher produzierten Klamauks abheben würde.

Und er schuf den „Tramp“, jenen Landstreicher, der mit den Manieren und der Würde eines Gentleman auftritt. In seiner Chaplin-Biografie beschreibt David Robinson, wie die Figur mithilfe von Kostüm und Maske mehrerer Kollegen, die sich mit Chaplin eine Garderobe teilten, entstanden ist: „ Charlie lieh sich Fatty Arbuckles riesige Hosen aus, dazu die Jacke des winzigen Charles Avery, Fred Sterlings Schuhe Größe 48, eine zu kleine Melone, die Arbuckles Schwiegervater gehörte, und einen Schnurrbart, der für Mark Swain bestimmt war.“

Ein Tritt für eine Dame

Chaplin selbst erzählt in seinen Memoiren, wie er dem Studioboss den Charakter des eben geschaffenen Landstreichers erklärte: „Wissen Sie, dieser Bursche ist sehr vielseitig. Er ist Vagabund, Dichter, Träumer, ein einsamer Bursche. Immer hofft er, es möge ihm etwas Romantisches und Abenteuerliches begegnen. Er möchte die Menschen glauben machen, er sei ein Wissenschaftler, ein Musiker, ein Herzog oder Polospieler. Und dabei ist er imstande, weggeworfene Zigarettenstummel aufzuheben und einem Säugling einen Lutscher wegzunehmen. Ja, wenn es die Gelegenheit verlangt, wird er sogar einer Dame einen Tritt in den Allerwertesten versetzen.“

Ein Wiener führt Regie

Regie in Chaplins erstem Film als „Tramp“ führte der gebürtige Wiener Henry Lehrman, der nach absolvierter Handelsakademie 22-jährig in die USA gekommen war, um zuerst als Straßenbahnschaffner und dann beim Film zu arbeiten. Aber Chaplin und Lehrman konnten nicht miteinander, Charlie bezeichnet den Österreicher in seinen Erinnerungen sogar als Feind, da dieser ihm stets die besten Pointen aus den Filmen schnitt. Durchaus möglich, dass Lehrman, der selbst auch Komiker war, dem neu entdeckten Leinwandhelden den Erfolg neidete. Jedenfalls lehnte Chaplin nach vier Filmen jede weitere Zusammenarbeit mit Lehrman ab. Als dann aber auch mit anderen Regisseuren Probleme auftauchten, übernahm Chaplin die Regie seiner Filme selbst – wodurch eine weitere seiner genialen Fähigkeiten zutage kam.

Der „Tramp“ revolutionierte den Film, denn es erwies sich als völlig neues Stilelement, wie der schüchterne kleine Mann ganz allein gegen Polizisten und Bösewichte, gegen Dummheit und Vorurteil den Kampf aufnimmt. Spätestens als er mitten im Ersten Weltkrieg in „Charlie als Soldat“ die Fronten verwechselt, für den Feind in die Schlacht zieht und so den Unsinn des ganzen Krieges aufzeigt, wurde Chaplin zum Don Quichotte des 20. Jahrhunderts, über den man weinen und gleichzeitig lachen konnte.

Der Star trat rund in der Hälfte seiner 90, später auch abendfüllenden Filme als „Tramp“ auf und lockte mit jedem einzelnen weltweit bis zu 300 Millionen Menschen ins Kino. Da er Charakter und Wesen der Figur nicht verändern wollte, drehte Chaplin, auch als der Tonfilm längst etabliert war, immer noch stumm.

Frauenaffären

In Hollywood war Chaplin alles andere als beliebt. Seine Frauenaffären sind Legende, er verlor einen aufsehenerregenden Vaterschaftsprozess und wurde in der berüchtigten McCarthy-Ära – als einer der reichsten Kinostars – als Kommunist verteufelt, zumal seine Filme „die amerikanische Moral untergraben“ hätten. Als er deshalb 1952 nicht mehr in die USA einreisen durfte, ließ sich Chaplin in der Schweiz nieder.

Doch alle Skandale, Affären und Verleumdungen änderten nichts daran, dass er zur größten Filmlegende aller Zeiten wurde. Präsident John F. Kennedy leitete seine völlige Rehabilitierung ein, sodass Chaplin 1972 – gegen sein Gelübde, je wieder amerikanischen Boden zu betreten – noch einmal nach Hollywood kam, um den Oscar für sein Lebenswerk entgegen zu nehmen.

Der Grabraub

Als er 1977 starb, hinterließ Chaplin Ehefrau Oona und seinen zehn Kindern ein Vermögen von 100 Millionen Dollar und die Aufführungsrechte seiner Filme von unschätzbarem Wert.

Zwei Monate nach seinem Tod kam es dann zur letzten Affäre um Chaplin: Zwei Männer entführten seinen Leichnam und verlangten von seiner Witwe Lösegeld in der Höhe von 600.000 Schweizer Franken. Die Grabräuber konnten verhaftet und Chaplin auf dem kleinen Ortsfriedhof am Genfer See zum zweiten Mal beigesetzt werden.

Die Szene hätte einem Chaplin-Film entstammen können.

Charles Spencer Chaplin Geboren am 16. April 1889 als Sohn eines Artistenpaares in einem Londoner Elendsviertel. Als sich der alkoholkranke Vater von seiner Frau trennt, gelangen Charles und sein um vier Jahre älterer Halbbruder Sidney in die Obhut ihrer Mutter. Doch die psychisch kranke Frau kann für ihre Kinder nicht sorgen, worauf sie in Armen- und Waisenhäusern, zum Teil sogar in Parks und auf Straßen aufwachsen. Mit fünf Jahren hat Charles Chaplin erste Auftritte in Londoner Kneipen, später in Music Halls.

Erste Theaterrollen Als 12-Jähriger

in ersten Theaterrollen zu sehen, geht Chaplin später auf Tournee und kreiert

im Jänner 1914 bei Dreharbeiten in Hollywood die Figur des „Tramp“, eines Vagabunden mit vorbildlichen Manieren.

Weltruhm In der Rolle des „Tramp“ erlangt Chaplin Weltruhm – bald auch als Autor, Komponist, Regisseur und Produzent. Er selbst dreht 90 Filme, meist für die von ihm mitbegründete Produktionsgesell- schaft „United Artists“. Seine größten Erfolge sind „The Kid“ (1920), „Goldrausch“ (1925), „Lichter der Großstadt“ (1931), „Moderne Zeiten“ (1936), „Der große Diktator“ (1940), „Rampenlicht“ (1952).

Privates Chaplin erhält drei Oscars, er ist vier Mal verheiratet, hat zehn Kinder, unter ihnen die Schauspielerin Geraldine Chaplin. Von der Queen 1975 geadelt, stirbt Sir Charles

am 25. Dezember 1977

im Alter von 88 Jahren in Vevey in der Schweiz.

Kommentare