Buchkritik: Neel Mukherjee und "Das Leben in einem Atemzug"

Buchkritik: Neel Mukherjee und "Das Leben in einem Atemzug"
Indisches Chaos mit Gespenstern: Steinerne Götzen haben in diesem Roman mehr Mitleid mit den Menschen.

Indien ist schockierend, und Indien ist schön. So will auch „Das Leben in einem Atemzug“ sein – wobei Neel Mukherjee (im Bild oben mit Prinz Charles’ Ehefrau Camilla) aus dem Schockierenden erwas schön Geschriebenes macht.
Gleich im ersten von fünf Teilen stirbt ein geschocktes Kind, das in den USA geboren wurde und mit dem Vater als Touristen in dessen Geburtsland gekommen ist.
Die vielen Eindrücke verursachen Fieber.
 Mukherjee lässt die Leser ziemlich allein. Ein Chaos aus Palästen und Dreck zeigt er auf breiter Leinwand – mit Menschen, die ein besseres Leben haben wollen ,  manche nicht einmal für sich selber:
Da gibt es eine  Frau, die bei sechs wohlhabenden Familien kocht. Täglich Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Sechs Familien.

Tanzbär

Sie ist stur und gibt keinen Asant (= Teufelsdreck) in die „thoran“ (= Gemüsemix mit Kokosnuss). Das könnte ein Kündigungsgrund sein.
Die Köchin wohnt im Slum. Das verdiente Geld schickt sie nach Heidelberg, zu ihrem Cousin, der Physik studiert. Vielleicht wird er ja berühmt. Vielleicht gibt er ihr’s zurück irgendwann.
Auch in der Geschichte vom ins Dorf verirrten Bärenbaby wird man das Gefühl nicht los, die steinernen Götzen in Indien haben mehr Mitgefühl als die reichere Bevölkerung.
 Der Mann, der dem gequälten Bären ein Loch in die Schnauze schlägt, für den Ring, an den er die Kette hängt ... er steckt die erbettelten paar Rupien ( 1 Rupie = 0,012 Euro) zur Sicherheit ins Halsband seines „Tanzbären“  Mit dem Ergebnis, das Geld wird nass. Ein Brei. So geht Zukunft bei den Ärmsten. Sie sind Gespenster, wie syrische Flüchtlinge in Europa, die man verjagt.
Neel Mukherjee stammt aus Kalkutta. Er lebt in London. Mit dem Roman „In anderen Herzen“ hätte er 2014 fast den wichtigsten britischen Literaturpreis (Man Booker) gewonnen.
Das war ein großes Ganzes.  Der Verfall einer Fabrikantenfamilie in Kalkutta. Die indischen Buddenbrooks.
Damals hatte Mukherjee die (anfangs) Reichen porträtiert. Die Gierigen. Es wurde im Haus gevöllert, während vor der Tür Hungersnot herrschte. Ein junger Mann, Enkelkind des Fabrikanten, flüchtete zu den Armen. Er war erschöpft vom Konsumieren, vom Nehmen, Raffen und Verbrauchen.
Die Welt versuchte er ins Gleichgewicht zu bringen –  die Luft zerbrechen wollte er, den Wind zerreißen, das Wasser zerschmettern.
Zerbrochen, zerrissen, zerschmettert wurde ER.
„In anderen Herzen“ involvierte die Leser. Es war ein kämpferischer Roman. Das fehlt beim leicht zerfledderten  „Das Leben in einem Atemzug“.


Neel
Mukherjee:

„Das Leben in einem Atemzug
Übersetzt von Giovanni und
Ditte Bandini.
Kunstmann
Verlag.
320 Seiten. 24,70 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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