Die wunderbare Mrs. Schweppessodawasser

Mrs. Beryl Dusinbery ist weit über 90, sie vergisst Wörter, ihre drei Söhne verwechselt sie, eigentlich kann sie sich nicht erinnern, sie großgezogen zu haben.
Zum Ältesten, einem Londoner Parlamentarier, sagt sie am Telefon:
„ Versuche, dich in gebildeteren Kreisen zu bewegen.“
„Ich sitze im House of Lords, Mutter.“ – „Eben.“
Man merkt es schon, ihr Verstand ist messerscharf geblieben, ekelhaft manchmal, von oben herab zu ihren Pflegerinnen – immerhin war sie Lehrerin, und man kann sie über Medea und Jason und Kleopatra ausfragen.
Mrs. Dusinbery nennt sich selbst Prinzessin Schweppessodawasser. Niemand hat eine Ahnung, warum.
Mr. Shimi Carmelli ist jünger, 91. Er würde gern einiges vergessen. Kann er nicht, denn er hat das hyperthymestisches Syndrom. Gibt es wirklich. Shimi merkt sich jeden Tag, an dem wer was gesagt und getan hat. Ist das eine Gabe? Ein Fluch?
Zärtlicher
Shimi ist sehr fit. Ein Dandy, immer Sakko und passendes Stecktuch. Nur: Es muss ein Baum in der Nähe sein, denn er leidet, wegen eines Medikaments, an ständigem Harndrang.
Sie vergisst mehr und mehr, er vergisst nichts (aber verdrängt einiges) ... sie wohnen vis-a-vis, begegnen einander aber erstmals auf dem Begräbnis seines Bruders.
Das wird ein Paar, auf das die Literatur gewartet hat.
Vom Briten Howard Jacobson - Foto oben - stammt diese Liebesgeschichte „Rendezvous und andere Alterserscheinungen“ – sie kommt nach seiner Version von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ (2017)und nach der verzweifelt frechen Satire „Pussy“ (2018) auf den damaligen US-Präsidenten Trump.
Jacobson, 78 ist er, beginnt heiter und ausgelassen, und je näher es zum Treffen von Prinzessin Schweppessodawasser mit Shimi kommt, desto zurückhaltender und zärtlicher wird er. Keine – sonst lebenswichtigen – spöttischen Witze mehr.
Die Zwei haben einander etwas zu sagen. Sie haben etwas miteinander aufzuarbeiten. Sie machen Hoffnung auf ein lebendiges Ende, das im Buch mit einer Zeichnung gesetzt wird: Zwei Skelette beim Küssen.
Und außerdem, Seite 256:
„Die Kunst des Lebens ist, aus dem Leben eine Kunst zu machen.“
Howard
Jacobson:
„Rendezvous und andere Alterserscheinungen“
Übersetzt von
Johann Christoph Maass.
Klett-Cotta.
394 Seiten.
24,90 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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