Karl Ove Knausgård reist an jene Orte, wo die Erinnerungen sind
Die Geschwätzigkeit war von Beginn an sein Begleiter.
Auf den 900 Seiten „Aus der Welt“ merkt man aber gut, was Karl Ove Knausgård (Foto oben) drauf hat:
Er leitet eine Expedition in die Gehirnwindungen eines jungen Mannes – eine bleiche Trauer schleppt sich vorbei, sie wird bald völlig verblassen, eine rasante Eingebung lässt das Expeditionsteam zusammen zucken.
Es sucht Erinnerungen, fängt sie, bindet sie fest und zieht sie in die Gänge zum Bewusstsein. Dort wird begutachtet. Knausgård ist der Obergutachter. Der Chefpsychologe.
Lolita, neu
Nein, diesmal besteht nicht die Gefahr, dass der Norweger bloß erzählt, wie er einen Apfel samt Stiel und Kerngehäuse verputzt hat.
Auch wird kein Abenteuer überlebt vom Format: So gelang mir die Flucht vor einer Wespe.
Allerdings sollte man wieder darauf gefasst sein, dass sich der Ich-Erzähler, wer immer das auch ist, zurückzieht und masturbiert.
Nach „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und „Kämpfen“... und nach vier Büchern, in denen Karl Ove Knausgård seiner noch nicht bzw. gerade erst auf die Welt gekommenen Tochter die Welt erklärt ... nach derart viel Selbstentblößung und Entzücken über die eigene Person, kommt jetzt der Schritt zurück:
1998 erschien „Ute av verden“, das ist „Aus der Welt“. Der allererste Roman des damals 29.Jährigen. Er wurde mit dem Preis der norwegischen Kritiker ausgezeichnet; und jetzt übersetzt.
Das Buch hat etwas von „Lolita“, aber gut 40 Jahre nach Vladimir Nabokov.
Knausgård im Interview: Er habe über Dinge geschrieben, über die er vorher nie nachdachte. So funktioniere wohl Literatur.
Drei Teile hat die Geschichte vom Aus-der-Welt-Gefallenen.
1. Teil: Der 26-jährige Aushilfslehrer Henrik verliebt sich in seine 13-jährige Schülerin Miriam („Lolita“ war zwölf, Verehrer Humbert Humbert um die 40). Henrik kommt Miriam nahe, aber nicht ganz. „Ich habe etwas Schreckliches getan!“ Er flüchtet. Schriftlich wird er kündigen.
300 Seiten.
2. Teil: Man lernt seine Eltern kennen.
150 Seiten.
3. Teil: Henrik ist nach Kristiansand gefahren, wo er aufwuchs. Vergangenheit ist wie eine Flasche, die im Schlamm steckt. Vorsichtig muss man sie heben und putzen, sonst ist der Inhalt nicht zu erkennen. Henriks Verhältnis zu Frauen wird untersucht. Miriam will auf Besuch kommen.
450 Seiten.
Freilich ist der stattliche Umfang ideal für mimimi und momomo – diese flotteren Wörter für Blabla hat Birgit Hebein (Die Grünen) im Wien-Wahlkampf erfunden.
Aber nie bleibt die Handlung deswegen lange stehen und dreht sich, um zu zeigen, wie schön sie ist.
Damit fing Karl Ove Knausgård erst nach diesem Debütroman an.
Karl Ove
Knausgård:
„Aus der Welt“
Übersetzt von Paul Berf.
Luchterhand
Verlag.
928 Seiten.
26,80 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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