Helga Schubert: "Vom Aufstehen" als Ergänzung zum Bachmann-Preis

Helga Schubert: "Vom Aufstehen" als Ergänzung zum Bachmann-Preis
28 weitere autobiografische Erzählungen der Ostberlinerin mit einer neuen Sichtweise auf kahle Bäume

Helga Schubert mag den Winter. Er macht sie hellsichtig.

Das Schönste am Winter sei, sagt sie, dass die Bäume keine Blätter haben.

Sofort denkt man: Das müssen die Worte einer Übergeschnappten sein. Aber Irrtum. Denn sind keine Blätter auf dem Baum, wird man nicht abgelenkt von der wahren Gestalt (von der Wahrheit); und man darf im Winter daheim sitzen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, sitzen und lesen. – „Ich darf mich nur mit meinen Gedanken beschäftigen.“

Die 29 autobiografischen Erzählungen im Buch „Vom Aufstehen“ sind ein Ergebnis davon.

Roman ist es wieder keiner geworden. Die Ostberliner Schriftstellerin Helga Schubert war auch noch nie in Spanien und hat Tschechows ganzen Briefwechsel noch nicht gelesen. Sie kann deshalb mit dem philosophischen Satz „Ich habe von allem genug“ gar nichts anfangen. Da kommt noch etwas.

Bohnenkette

Besser gefällt ihr der Text auf einer Postkarte, die Dorothea Zeemann (die Wiener Schriftstellerin und Geliebte Doderers starb 1993) an ihrer Wohnungstür stecken hatte:

Das alles nicht,

nichts davon.

80 ist Helga Schubert. Im Vorjahr gewann sie den Bachmann-Preis. Ein besonderer Sieg, denn schon vor 40 Jahren war sie zum Wettlesen eingeladen worden – sie durfte aber nicht aus der DDR ausreisen.

Etwas Wärme in einer eiskalten Welt: Die Juroren waren von dem Text, in dem sie u.a. ihrer Mutter aus Bohnen eine Halskette bastelte und von ihr ausgelacht wurde, sehr angetan.

Wobei Schubert eine faktische Erzählerin ist, eine genaue, kühle. Kühle Wärme: Das muss kein Widerspruch sein.

Der Siegertext ist die letzte Geschichte im fertigen Ganzen. Geschichten, die Mikroskop sind. Die das Kriegskind zeigen, dessen Vater 1942 von einer Granate zerfetzt wurde, 28 war er. Die Frau im geteilten Deutschland. Die Tochter einer Mutter, die 101 Jahre alt wurde. Die Ehefrau, die daheim ihren kranken Mann pflegt ...

Nichts ist zu gering, um erzählt zu werden; von ihr schon gar nicht. Nichts ist unwichtig, nichts uninteressant. Der Text, für den Helga Schubert ausgezeichnet wurde, ist trotzdem der beste.

 

Helga Schubert:
„Vom
Aufstehen“
dtv.
192 Seiten.
22,70 Euro

KURIER-Wertung: ****

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