Ein Frauenporträt für alle Gefangenen der Arbeit und der Liebe

Ein Frauenporträt für alle Gefangenen der Arbeit und der Liebe
Die Französin Nina Bouraoui und ihr Roman „Geiseln“ mit den überfallsartigen Sätzen

„Geiseln“ ist selbstverständlich die härtere, dramatische Version. Aber:

Es ist, als ob eine Frau einen Stein im Schuh hat. Mehrere Steine. Zumindest zwei.

Sylvie ist eine berufstätige alleinerziehende Mutter zweier Buben, um die 50 Jahre alt, und sie hat nicht einmal Zeit, um den Wind auf der Haut zu spüren. Oder einer Amsel zuzuhören.

Also wird sie nicht stehen bleiben. Also wird sie den Schuh nicht ausziehen. Eine wie Sylvie wird unter Schmerzen weiterlaufen, bis es ihr unmöglich ist.

Dann wird sie schreien.

Listen

Die Französin Nina Bouraoui hat ein universelles Frauenporträt geschrieben.

„Geiseln“ wurde fertig, bevor die Gelbwesten erstmals auf die Straße protestieren gingen. Anfangs war es ein Theaterstück und wurde zu einem Roman erweitert, dessen Sätze kurz sind und überfallsartig einschlagen

Nina Bouraoui widmet ihn den Geiseln der Arbeit und der Liebe – also eh allen.

„Geiseln“ kann Mann als Angriff verstehen und lieber einen Bogen machen. Oder interessiert sein.

Oder man zeichnet das Buch gleich mit einem Literaturpreis aus, dem Prix Anaïs Nin – die Jury lobte, wie die Französin soziale Gewalt und die Folgen auf sprachlich unverwechselbarem Niveau erklärt.

Sylvie wird von ihrem Mann verlassen. Er sagt eines Tages in der Früh: „Ich gehe.“ Sie sagt nichts und richtet das Frühstück für die Kinder her. Erst später gesteht sie sich ein, dass sie ihre Liebe verloren hat.

Arbeit ist für sie eine Möglichkeit, trotzdem dem Glück etwas näher zu kommen. Sylvie ist seit 21 Jahren in einer Gummifabrik beschäftigt, verantwortlich für die Produktionskontrolle und sehr geschätzt.

Der Firmenchef weint sich bei ihr aus, der Firma gehe es nicht gut; es kann ihr auch nicht gut gehen, wenn der Firmenchef gern im Spielcasino ist.

Er bittet – er verlangt von Sylvie, dass sie für ihn spioniert: Dass sie ihm Listen schreibt, auf welche Arbeiterinnen er sich ganz verlassen kann, wer fleißig ist, wen man entfernen kann.

Und sie macht das.

Weil: „Wir halten den Mund, denn von irgendwas muss man ja leben.“

Nur anfangs macht sie es.

Zweiter Stein im Schuh.

Aber der Chef „hat ihre Wand eingerissen, die Wand zwischen Gut und Böse.“

Die muss schnell wieder aufgebaut werden.

Ihr Schrei verschafft ihr Freiheit. Obwohl sie ins Gefängnis muss. Nein, es wird keinen Mord geben. Bei Sylvie ist selbst der Schrei nicht besonders laut, er dauert eine intensive Nacht, und der Firmenchef, der dachte, Macht über andere ausüben zu können, der bekam immerhin Angst.

Nina Bouraoui ist manchmal überdeutlich mit ihrer Botschaft. Andererseits lässt DAS sowieso keinen Spielraum zu:

„So wichtig einem der Job ist. Wir brauchen Menschen, die wir lieben, nicht die, die uns schuften lassen.“


Nina Bouraoui:
„Geiseln“
Übersetzt von
Nathalie
Rouanet.
Elster & Salis
Verlag.
128 Seiten.
24,70  Euro

KURIER-Wertung: ****

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