"Die Frauen von Birkenau": Wieso werden wir nicht wahnsinnig?

"Die Frauen von Birkenau": Wieso werden wir nicht wahnsinnig?
75 Jahre ließ man sich Zeit, um Seweryna Szmaglewskas Lagerliteratur zu übersetzen

Sie sagt nie „Ich“. Das würde, mit ihr im Mittelpunkt, heldenhaft aussehen: Seht, ich habe überlebt.

Nein, so sollte ihr Buch nicht werden. „Die Frauen von Birkenau“ ist den anderen gewidmet: den Toten und den wenigen, die das KZ, das zu Auschwitz gehörte, halbwegs lebend verließen.

Die Warschauer Studentin Seweryna Szmaglewska (Foto oben), die eine bekannte polnische Schriftstellerin werden sollte, war 1942 nach Birkenau deportiert worden, weil sie sich auf der Straße die Brille zurechtgerückt hatte.

Ein SS-Mann hatte vermutet, sie habe ein geheimes Zeichen gegeben ...

Szmaglewska war damals 26. Es folgten 30 Monate im Lager – ein Feld ohne Kanalisation anfangs, sechs Gaskammern, vier Krematorien, Pferdeboxen, die zu Schlafkojen umgebaut wurden, eine Box für 1 Pferd = für bis zu 30 Frauen. Gleich nachdem ihr während des Todesmarsches im Jänner 1945 die Flucht gelungen war, schrieb sie alles auf.

Nürnberg

Und sie schrieb letztlich so, dass sie unsichtbar blieb.

Zitat: „... Vorbei an der gefährlichen blonden Oberaufseherin Mandl, die einen, ohne mit der Wimper zu zucken, zum Tode verurteilen kann. Vorbei an dem Rapportführer Taube, der eine besondere Methode hat, den Frauen plötzlich einen so zuverlässigen Schlag mit der Faust ins Gesicht zu verpassen, dass selbst die Stärksten sofort nach hinten fallen ...“

75 Jahre nach Kriegsende und 75 Jahre nach der polnischen Erstausgabe liegt jetzt eine Fassung in deutscher Sprache vor. Erst jetzt. Erstmals.

Und niemand soll sagen, man habe von der Existenz dieses Textes nichts ahnen können: Die Autorin sagte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess aus, ihr Buch war Bestandteil der Akten.

Man atmet von Seite zu Seite schwerer. Lesepausen sind notwendig. Können sich Menschen so sehr verirren, wenn ihnen jemand eintrichtert, sie gehören zu einer „Herrenrasse“?

Eine Frau in Auschwitz-Birkenau: „Sagt mal, wie kommt es, dass wir von dem, was wir sehen, nicht wahnsinnig werden?“ – „Wer weiß, vielleicht ist das schon der Wahnsinn.“


Seweryna
Szmaglewska:
„Die Frauen von Birkenau“
Übersetzt und mit einem
Nachwort von
Marta Kijowska.
Schöffling Verlag.
448 Seiten.
28,80 Euro

KURIER-Wertung: ****

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