Buchkritik: 6000 Windräder und "Dahinter das offene Meer"

Buchkritik: 6000 Windräder und "Dahinter das offene Meer"
Eine Herausforderung: Der Roman des Engländers Ben Smith hat als Bühne eine Plattform in der Nordsee.

"Dahinter das offene Meer“ wäre ein typisches Kammerspiel – und kann es nur deshalb nicht sein, weil die Dekoration etwas zu aufwendig ist:

6000 Windräder.

Die Bühne ist eine Plattform in der Nordsee, wo die Aufsicht über den Windpark sitzt: ein Alter und ein Junger.

Rotoren manchen Lärm, Generatoren, Ventilatoren, der Sturm, der Regen, die Plattform knarzt. „Was?“, ruft der Junge. – „Was?“, ruft der Alte, denn er hat den Jungen nicht verstanden. „Ich sagte: Was?“, ruft der Junge.

Wasser und Metall. Wie lange braucht Metall, bis es im Rost verschwindet? Wie lange braucht Wasser, bis Land erobert wird und nichts Menschliches mehr da ist?

Der Alte und der Junge sollen die Windräder warten, reparieren. Sie können nur kleine Schäden beheben. Die Fundamente zerbröseln. Es fehlt an Werkzeug und Ersatzteilen. 800 Räder drehen sich nicht mehr. Manchmal (selten) kommt ein Schiff und bringt Material. Da ist dann der vierte Mitwirkende auf der Bühne. Der dritte ist das Wasser.

Fokussiert

Die Zeitung Guardian hat das Debüt des Engländers Ben Smith (Foto oben) unter die besten Romane des Jahres 2019 gewählt.

Hat bestimmt damit zu tun, dass Smith mit so wenig Personal auskommt – wie Nobelpreisträger Samuel Beckett, wie Nochnichtnobelpreisträger Cormac McCarthy. Das kraftvolle Schreiben ist fokussiert. Die Dekoration ist mehr als bloß statischer Hintergrund.

Die Auszeichnung hat auch damit zu tun, dass „Dahinter das offene Meer“ so herausfordernd ist.

Für wen drehen sich denn die Windräder überhaupt noch? Man hat das Gefühl, die Welt ist am Ende angelangt, sehr viele Menschen dürften nicht mehr am Leben sein. Es muss eine Naturkatastrophe gegeben haben. Zumindest die Landschaft, auf die man einen guten Blick hat, sieht zerstört aus. Im begrenzten Raum sieht man „unsere“ heutigen Landschaften, die in Gefahr sind.

Genaues erfährt man nie. Man muss diesen Roman fertig denken.

Und noch ein Geheimnis bleibt: Der Vater des Jungen ist vor Jahren verschwunden. Der Alte weiß, wohin. Er verrät es aber nicht. Der Junge vermutet, dass der Vater ertrunken ist.

Holt er mit der Angel aus dem Dreck einen Stiefel, so denkt er, er könnte seinem Vater gehört haben.

„Die Firma“ – wer immer das ist – hat den Jungen zum Nachfolger auf der Plattform bestimmt. Er überlegt zu flüchten. Aber da müsste er den Alten im Stich lassen ...

(Zitat:) „Und das Wasser arbeitet weiter – ebnet ein, zerrt an Ecken und Kanten und versucht unablässig, zu einer glatten Oberfläche zurückzukehren. Ins Fließgleichgewicht. Es wiederholt sein Mantra: Festigkeit ist nichts als eine Unterbrechung des fortwährenden Flusses, ein Hindernis, das zu überwinden, ein Ungleichgewicht, das zu korrigieren ist.“

 

Ben Smith:
„Dahinter das offene Meer“
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.
Liebeskind Verlag.
256 Seiten.
20,60 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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