Alpträume, Verlustbewältigung und Facebook-Dialog

Zuschauer sitzen in einem Fernsehstudio vor einer Leinwand mit einer Frau.
Heftige Debatten innerhalb der Jury brachte der zweite Tag des Wettlesens in Klagenfurt.

Anne-Kathrin Heier hat am Freitag den zweiten Tag des Wettlesens um den Bachmann-Preis im Klagenfurter ORF-Theater eröffnet. Ihr rätselhafter Text löste heftige Debatten aus. Birgit Pölzl fand für ihre Erzählung eher wenig Zuspruch bei den Juroren. Senthuran Varatharajah erhielt hingegen viel Lob für seinen Romanauszug.

Atemlos

"Ichthys" ist eine atemlose Erzählung einer drogensüchtigen Figur, die tagsüber einem bürgerlichen Beruf nachgeht. Anspielungen auf die Literaturausbildung hoffnungsvoller Autoren gibt es auch. Die Erzählerin erfindet eine Figur, die eine Entführung plant und durchführt. Im Zentrum stehen die Süchte der Person, immer wieder kreist der Text um das Ich und seine vielfältigen Bedeutungen.

Arno Dusini sah einen sehr konsequenten, alptraumhaften Text. Meike Feßmann fühlte sich "in die Zange genommen", es sei ein Text über Süchte und Zwänge, aber nicht wirklich auflösbar. Daniela Strigl konstatierte, solche Texte seien "ein gefundenes Fressen für Germanisten", aber es gebe sehr verstiegene Bilder. Hildegard Keller meinte, es sei ein Wagnis, "mit so einem schwachen Text in den Wettbewerb zu kommen". Für sie sei es weder eine Geschichte noch ein literarischer Text. Burkhard Spinnen, der Heier nominiert hatte, meinte, die wesentliche Funktion von Kunst sei es, die Menschen zu erschrecken und befand: "So spricht das 21. Jahrhundert."

Stillleben

Birgit Pölzl las den Text "Maja", in dem es um ein gestorbenes Kind geht, das für die Mutter aber weiterhin vorhanden ist. Sie weigert sich, den Verlust zu realisieren und unternimmt eine Reise - offenbar nach Tibet - um wieder zu sich zu finden.

Hubert Winkels war nicht wirklich angetan von der Erzählung, er sah eine "etwas zusammengetragene Sentimentproduktion" und empfand Langeweile. Strigl sah einen Versuch, einfühlsam und empathisch über eine Familientragödie zu schreiben. Keller bekundete Respekt, Feßmann sah "Esoterik-Kitsch" und einen Missbrauch eines toten Kindes. Arno Dusini, der Pölzl eingeladen hatte, erklärte, der Plot sei simpel, aber die ganze Geschichte der Ablösung "ist viel feiner". Spinnen bezeichnete den Text als "Stillleben einer Trauer".

Philosophie auf Facebook

Der aus Sri Lanka stammende Senthuran Varatharajah beschloss den Vormittag mit dem Romanauszug "Vor der Zunahme der Zeichen". In Form eines Facebook-Dialogs zwischen zwei ehemaligen Flüchtlingen, die beide in Deutschland aufgenommen worden sind, Eliona Surroj und Senthil Rajasingham. Die beiden tauschen Erfahrungen über ihre Familien, ihre Vergangenheit und über ihr Flüchtlingsschicksal aus. Folter, Demütigungen und das Unverständnis fremden Kulturen gegenüber werden genauso verhandelt wie Probleme mit Religion und Sexualität.

Winkels sah die Dialogpartnerin des Protagonisten als von diesem erfundene Spiegelung. Feßmann, die Varatharajahs Text ausgewählt hatte, hielt diese Idee für völlig absurd. Keller fand den Dialog durch die vielen philosophischen Zitaten "etwas schwer". Strigl diagnostizierte: "So schreibt man in Facebook nicht." Wenn man es doch tue, sei es Absicht. Spinnen befand, es sei gar kein Chat, sondern der Auftritt von Figuren in einer griechischen Tragödie. Die deutsche Sprache klinge, als habe jemand "Deutsch bei Hegel gelernt". Dusini sah einen "hohen Ton". Juri Steiner sah die Umdeutung des Facebook-Dialogs zu Literatur als "Beweis dafür, dass das Buch nicht ausgestorben ist".

Nachmittag gehörte den Schweizern

Der Auslosung geschuldet, lasen die beiden eidgenössischen Teilnehmer Michael Fehr und Romana Ganzoni am Freitagnachmittag unmittelbar hintereinander. Fehr beeindruckte die Jury, auch mit seinem Vortrag, Ganzoni fiel hingegen durch.

Michael Fehr trug Auszüge aus "Simeliberg" vor. Der beinahe blinde Autor bekam den Text via Kopfhörer vorgelesen und gab ihn im stehenden Vortrag wieder. In stark schweizerisch gefärbtem Deutsch zeichnet er ein beklemmendes Bild eines Schweizer Dorfes, in dem sich allerlei skurrile Typen tummeln. Ein "Gemeindsverwalter" muss sich um Probleme kümmern, eine Frau ist angeblich verschwunden, er soll nachsehen. In einem anderen Textausschnitt gerät er in Bedrängnis durch eine Gruppe Studenten, die bewaffnet in Pseudouniformen im Wald umgehen. Die Fragmentierung des Textes sorgte allerdings für ein wenig Verwirrung.

Juri Steiner, der Fehr vorgeschlagen hat, erklärte zuallererst den Titel des Buches, "Simeliberg" sei in der Schweiz jedermann ein Begriff, es stamme aus einem sehr bekannten Volkslied. Fehr sei ein "magischer Mystiker", der sich in die Schweizer Eigenarten vertiefe. Hubert Winkels sah eine "perfekte Struktur", der Text sei sehr in sich geschlossen und eindrucksvoll. Für Daniela Strigl war es "zeitgenössisches Schweizer Bauerntheater", das sie sehr originell gefunden habe. Meike Feßmann konzedierte, sie sei dankbar für die Interpretationen, denn sie sei dem Text auf den Leim gegangen. Arno Dusini glaubte ein "Schreibprojekt" vor sich zu haben, das ihn beeindrucke, es bestehe aber die Gefahr der Überinstrumentierung. Für Hildegard Keller macht Fehr die Sprache zu einem "langsamen Tier". Burkhard Spinnen meinte, der Vortrag werde oft als nicht so wichtig erachtet, "und hier umarmen wir ihn". Er könne den Text beim Lesen zwar zum Klingen bringen, aber "Schweiz kann ich nicht".

"Kaputtgelesen"

Abschließend las Romana Ganzoni "Ignis Cool". Die Hauptfigur ist Bruna, eine junge Frau, der von ihrer Mutter ein Auto aufgedrängt wird, ein Suzuki Ignis Cool. Sie bleibt mit eben diesem Auto auf einer Passhöhe liegen, ihr ist das Benzin ausgegangen. In Rückblenden wird ihr Aufwachsen erzählt, bis Bruna plötzlich im Rückspiegel ihres Autos ihre Mutter erblickt, die ein Jausenbrot auspackt und zu essen beginnt. Da überlegt sie, wie sie ihre Mutter umbringen kann. Das Ende ist ein wenig verrätselt, deutet aber doch sehr auf einen Selbstmord der Hauptdarstellerin hin.

Feßmann fand den Text ebenso langweilig wie Winkels. Spinnen fand es "unendlich schade", dass die Autorin ihre Figur "kaputtgelesen" hätte. Der Text sei handwerklich "okay gemacht", so der Juryvorsitzende, der Ganzoni riet, an ihrem Vortrag zu arbeiten. Strigl sah das Problem, dass der Selbstmord "zu bestellt und zu abrupt" wirke. Keller, die Ganzoni ausgewählt hatte, verteidigte ihre Autorin naturgemäß, sie bestritt aber, dass es am Ende tatsächlich einen Selbstmord gibt. Steiner befand, Mutter und Tochter würden in diesem Text "gemeinsam einen Molotow-Cocktail trinken". Dusini sah das Finale als Aufforderung, weiter zuzuhören.

Der Wettbewerb wird am Samstag mit den letzten drei Lesungen abgeschlossen. Den Auftakt macht Katharina Gericke, gefolgt von Tex Rubinowitz, den Abschluss macht Georg Petz.

INFOS und LIVESTREAM: bachmannpreis.eu

Die Zeit des Privaten schien zunächst vorbei: Statt um Kindheit und Haustiere, die in den vergangenen Jahren (zu) oft im Zentrum vieler literarischer Performances standen, begann der diesjährige Bachmannwettbewerb mit Themen wie Steuererklärung und Nerzaufzucht.

Roman Marchel liest Papiere bei einer Veranstaltung.
APA19198206-2_03072014 - KLAGENFURT - ÖSTERREICH: Der österreichische Autor Roman Marchel am Donnerstag, 3. Juli 2014, während des Wettlesens um den Ingeborg Bachmann-Preis im Rahmen der 38. Tage der deutschsprachigen Literatur im ORF-Landesstudio in Klagenfurt. FOTO: APA/GERT EGGENBERGER
Am Anfang stand jedoch die privateste aller Geschichten, der Tod. Der Grazer Roman Marchel erzählte in "Die fröhlichen Pferde von Chauvet" von einer alten Frau, die ihren Mann aus Mitleid tötet. Marchel, der bereits mehrere literarische Veröffentlichungen vorweisen kann, wurde von der Jury mehrheitlich positiv bewertet. Einzig Hubert Winkels hatte Einwände, doch auch er fand es "schwer, nicht beeindruckt zu sein".

Der zweite Auftritt, die Lesung eines namenlosen Textes der Deutschen Kerstin Preiwuß, fand weniger Zustimmung. Ihre Debatten über Nerzaufzucht in der DDR wurden wortreich kritisch auseinander genommen.

Aufg’legt

Durchwachsen dann der Tenor auf Tobias Sommer. Der Autor, der bereits zwei Romane veröffentlicht hat, arbeitet im Brotberuf bei der Finanz ("Ein Beruf wie Kafka", stellte ihn Moderator Ankowitsch vor). Sein Text "Steuerstrafakte" handelt von einem Mann, der von so wenig Geld lebt, dass ihm die Steuerbehörde nicht glaubt. "Als Schweizer hat man besonderes Interesse am deutschen Steuersystem", befand Juri Steiner, der Sommer eingeladen hatte. Was den anderen Juroren nicht reichte. "Einfältig gebaut", befand Maike Fessmann, und Daniela Strigl vermisste Humor: Die satirische Ausbaufähigkeit sei allzu naheliegend, "aufg’legt, wie das in Österreich heißt" – Gleichzeitig sei es ein "großes Rätsel, wieso so wenig Witz daraus gewonnen wird". Juryvorsitzender Burkhard Spinnen, lapidar: "Ich hab hier vieles nicht verstanden."

Peinlich

Am Nachmittag wurde es dann wieder sehr privat: Die Österreicherin Gertraud Klemm las einen Auszug aus dem Roman "Ujjagy" über einen Tag im Leben einer Frau, die sich gegen weitere Kinderwünsche ihres Mannes wehrt. Er wurde zwiespältig aufgenommen. "Frustrationslabyrinth der Kleinkinderziehung, hart an der Grenze der Peinlichkeit – worin auch die Stärke liegt" urteilte Meike Fessmann. Hubert Winkels, der Klemm eingeladen hatte, fühlte sich durch diese "Suada" an Thomas Bernhard erinnert: "sehr "österreichisch". Harsch Burkhard Spinnen: "Frauenzeitschrift-Befreiungsprosa".

Der Beitrag der prominentesten Kandidatin machte den Abschluss. Olga Flor las den Romanauszug "Unter Platanen", die Geschichte einer ehemaligen Beziehung, unter der der Subtext ehemals verfeindeter Länder steckt. Auch war die Jury uneins: "Hier steckt auf engem Raum viel drin", fand Strigl. Was Meike Fessmann als "überfüttert" und Arno Dusini als "Wohlstandsprosa" bewertete.

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