„Jeden Tag liefert die Humble Oil Company genug Energie, um sieben Millionen Tonnen Gletscher zu schmelzen!“ hieß es in einer doppelseitigen Anzeige, die 1962 im Magazin Life mit dem Bild eines Eismassivs erschien.
Der später im Exxon-Mobil-Konzern aufgegangene Öllieferant konnte sich damals noch ungeniert mit einer solchen Leistung brüsten: Die Ausschlachtung fossiler Ressourcen bedeutete Fortschritt. Sichtbar, greifbar und fahrbar wurde der Eroberungsgeist in den Straßenkreuzern, den Chevys und Cadillacs, die in den Fabriken von Detroit in ständig neuen Varianten vom Band rollten.Dass sich eine derartig triumphale Erzählung der Automobilgeschichte heute nicht mehr ausgeht, dürfte auch hartnäckigen Benzinbrüdern und Klimawandel-Skeptikern einleuchten.
Das Londoner Victoria & Albert Museum, eines der bedeutendsten Kunstgewerbe-Museen mit einer Reputation für zeitgeistige und publikumsträchtige Ausstellungen, setzte trotzdem gerade jetzt eine Schau zum Thema des Autos auf sein Programm (bis 19. 4. 2020). Darin geht es weniger um Innovationen in Design und Technik als um jene Kräfte, die das Auto in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur entkoppelte.
Kultur, nicht Kult
Tatsächlich macht die Schau – und der lesenswerte Katalog – mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Exponaten deutlich, dass es seit der Patentierung des Benz Patent-Motorwagens im Jahr 1885 mehrere Abzweigungen gab, die zu gänzlich anderen Formen von Mobilität hätten führen können.
So galt der Elektromotor, nicht der Verbrennungsmotor um 1900 als die Technologie der Zukunft. Die „sauberen und verlässlichen“ elektrischen Gefährte wurden auch gezielt an Frauen vermarktet.Zu einem Umdenken kam es erst, als Hersteller den Konnex zwischen Automobilität und Entdeckergeist zu betonen begannen: Ein jederzeit auftankbarer Wagen konnte weitere Strecken bewältigen und wurde zum Werkzeug für (männliche) Abenteurer, die sich einen Weg durch unwegsame Ländereien bahnten. In den damaligen Kolonien wurde das Auto auch rasch zu einem Herrschaftswerkzeug. „Der Triumph des Verbrennungsmotors ist ein Beispiel dafür, wie kulturelle Einstellungen technologische Umwälzungen bedingen können“, heißt es dazu im Katalog.
Dass sich das Auto so gut eignete, um den Kreislauf des Eroberns, Erschließens, Produzierens und Konsumierens anzukurbeln, lag nicht zuletzt auch an Zukunftsvisionen, die am Feld der populären Kultur formuliert wurden.
Die Londoner Schau zeigt, wie sich Mobilitätsphantasien über Epochen hinweg glichen: Die Idee extrem verdichteter Städte mit mehrgeschossigen Straßen findet sich in phantastischen Illustrationen des Jahres 1914 ebenso wie im Film „Blade Runner 2049“ (2017).
Fiction & Science
Autonom in Tunneln düsende Autos, wie sie Tesla-Vordenker Elon Musk plant, hatte General Motors bereits in den 1950er Jahren auf der Agenda. Fliegende Autos sieht man in einem Magazin aus dem Jahr 1892 ebenso wie in den „Zurück in die Zukunft“-Filmen und anhand eines Audi-Prototyps am Ende der Schau.
Dass die auch durch den Rennsport propagierte Fortschritts- und Geschwindigkeitsideologie in alle Lebensbereiche vordrang, lag aber nicht zuletzt an Henry Ford und der von ihm perfektionierten Fließband-Produktion: Sie stieß einen Effizienz-Kult an, den das Museum bis zu den arbeitsteilig produzierten Hits des nicht zufällig in Detroit ansässigen Plattenlabels Motown weiterverfolgt.
Auch kommunistische Regime adaptierten das Auto als Symbol der Produktivität, erklärt Kurator Brendan Cormier. Sie investierten aber wenig in Infrastruktur: Individualtourismus im Auto war bei ihnen nicht vorgesehen.
Anders im Westen: Die vom Reifenkonzern Michelin initiierten Reiseführer (samt Restaurant-Bewertungen) dienten ebenso der Förderung des Autotourismus wie der „Kraft durch Freude“-Wagen des NS-Regimes, später VW Käfer.
Um den Konsum anzukurbeln, schloss die Autoindustrie Mode und Modernität kurz: Als General Motors-Chef Alfred Sloan 1921 begann, jährlich wechselnde Modelle auf den Markt zu bringen, kam die Inspiration dazu von den saisonalen Pariser Couture-Schauen.
Rasche Sortimentwechsel wurden in der Folge in vielen Branchen zur Selbstverständlichkeit. Die Schnittigkeit von Autos sickerte wiederum ins Produktdesign – in der Schau steht dafür exemplarisch eine aerodynamisch anmutende Wurstschneidemaschine aus dem Jahr 1944. Autos wiederum saugten Einflüsse aus dem Flugzeugbau und der Raumfahrt auf. Die Frage, was die Anpassung ans Auto im Städtebau bewirkte, lässt die Schau aus – sie hätte wohl den Rahmen gesprengt.
Auch auf eine andere Art reicht das Auto in die Kultursphäre hinein: Noch 2018 ließ sich das Victoria & Albert Museum seine Jahresausstellung vom Volkswagen-Konzern sponsern. Nun ist der Zulieferer Bosch an Bord. Der Ölkonzern BP – einst beliebter Unterstützer britischer Museen – kommt nur kurz am Ende der Schau vor: Hinter der Präsentation eines schnittigen Autos der Zukunft läuft ein Video der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko 2010.
Nein: Naive Auto-Propaganda kann man der Ausstellung nicht vorwerfen. Sie demonstriert lediglich, wo wir stehen. Und dass sich Kultur – und mit ihr die Mobilität – stets verändern und neu erfinden kann.
Der KURIER reiste auf Einladung des Victoria & Albert Museums nach London.
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