Andrea Camilleri, 93, erinnert sich an "Momente mit Blitz"

93 ist der Sizilianer
Andrea Camilleri (Foto oben) geworden. Blind ist er, und das findet er insofern gut, weil ihn nun nichts mehr ablenkt.
Sagt er; und denkt an störende Fliegen, die früher seine Gedanken forttrugen.
Den neuen Roman mit seinem Commissario Montalbano diktiert er.
26 Kriminalfälle sind bisher auf Deutsch erschienen. Plus 38 Romane ohne Montalbano. Das ist viel für einen, der erst mit 70 anfing, Romane zu schreiben.
„Der einzige Mensch, der befähigt ist zu entscheiden, ob ich zu viel oder zu wenig schreibe, bin ich!“
Balzac hat, bei 50 Schalen Kaffee, täglich 15 Stunden geschrieben. Wurde Balzac dafür kritisiert? Na bitte.
Im Spielzeugkasten der Enkelkinder hat Camilleri noch Manuskripte versteckt, und das Ende von Montalbano ist längst fertig.
Keine Flügel
Mitte dieser Woche kam „Gewisse Momente“ in die Buchhandlungen. Begegnungen mit Menschen, wunderbar scharf pointiert erzählt, die bei ihm
Blitze auslösten, Momente größer Klarheit.
Naja, nicht alle haben seinen Geist heller gemacht:
Der Student, dem Camilleri – zunächst Theater- und TV-Regisseur – Nachhilfe gab, war seltsamerweise immer nackt. Egal. Aber anstatt Camilleri zuzuhören, tat er nur so und fing eine Fliege, die er in der Faust gefangen hielt. In einem – nur scheinbar – unbeobachteten Moment riss er der Fliege die Flügel aus, warf die Flügel weg, aß die Fliege.
„Du hast sie gegessen?“ – „Ja.“ – Warum denn das?“ – „Fliegen schmecken mir.“ – „Aber warum hast du ihr erst die Flügel ausgerissen?“ – „Die Flügel finde ich ekelig.“
Über Prima Levi schreibt er, von einer Prostituierten, von Pasolini (war ihm unsympathisch), von seinem Lehrer, der von den Schülern wöchentlich ein Packerl Zigaretten einforderte (sonst weigerte er sich, über Dante zu sprechen – das erhöhte ihre Aufmerksamkeit) ... und von einem der bedeutendsten Schriftsteller Italiens: Carlo Emilio Gadda erklärte ihm auf der Straße, seine Vermieterin sei ein Problem.
Geklettert
„Warum?“ – „Sie kackt überall hin.“ – „Wie, überall hin?“ – „Überall, sage ich Ihnen, überall. Sogar an die Wände meines Schlafzimmers.“ – „Wie stellt sie das denn an, an die Wände zu kacken?“ – (flüsternd) „Ich glaube, sie klettert daran hoch, wenn sie Durchfall hat.“
Gadda war nicht verrückt. Er erfand bloß Geschichten, die er am Ende selbst glaubte.
Ist ein gefährliches Metier. Camilleri meint ja auch, sein Commissario Montalbano werde immer grantiger, weil ihn die Leute fragen, ob er der Typ aus dem Fernsehen ist ODER DER RICHTIGE. (Von 40 fertigen italienischen Verfilmungen wurden vier in Österreich noch nicht gezeigt.)
Andrea Camilleri:
„Gewisse
Momente“
Übersetzt von Annette Kopetzki.
Kindler Verlag.
176 Seiten.
22,70 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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