América - Von T. C. Boyle
Eine nicht nur unter Literaturwissenschaftlern oft diskutierte Frage lautet: Kann ein Buch die Welt verändern? Natürlich nicht, denkt man, werden doch die Geschicke der Welt von Menschen gelenkt und nicht von Büchern. Sogar die einflussreichsten Texte, etwa Bibel und Koran, verwandeln nicht die Welt – sondern die Exegeten, die diese Bücher interpretieren. Ein klares „Nein“ also. Aber stimmt das wirklich? Was ist beispielsweise mit einem Buch wie Boyles „América“? Dieser grandiose Roman handelt von zwei Paaren am Rande von Los Angeles, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Die erfolgreiche Maklerin Kyra und ihr Mann Delaney, Hunde und Kinder betreuender Hausmann, der außerdem Kolumnen über die Natur schreibt. Gutbürgerliche, dem Humanismus und der Bildung verschriebene Eheleute. Das andere Paar: Illegale aus Mexiko. Cándido und die gerade einmal 17-jährige, schwangere América. Während Kyra und Delaney ein hübsches Haus bewohnen, hausen América und Cándido in einem Canyon am Rande des Highways. Verzweifelt bemühen sie sich um Arbeit und die Zukunft verheißenden „Dollares“, aber das Schicksal oder T. C. Boyle schickt sie von einer Prüfung in die nächste. Cándido wird – vom Natur- und Menschenfreund Delaney – angefahren und vom Rest der Welt übers Ohr gehauen, América ausgebeutet, beraubt und vergewaltigt. Kunstvoll, bitter und mit sarkastischem Humor flicht Boyle das Leben dieser beiden Paare ineinander. Der Kontrast führt in ironische Kontraste, etwa wenn América sich mit Hamburger-Resten aus dem Müll begnügen muss, während Delaney für seine Kyra „Tofu-Ćevapčići mit seiner speziellen Honig-Ingwer-Marinade“ bereitet. Boyle beschreibt voller Komik und Ernst zugleich, wie Einwanderer im reichen Land ihr Glück versuchen und allein durch ihre Anwesenheit sogar bei Menschen wie Delaney Ausländerhass entstehen kann. Die Mauern wachsen. Die Verzweiflung wird größer, nicht nur bei Cándido und América. Auch Kyra zweifelt immer stärker an ihrem Leben als Haus-Verkäuferin, und auch Delaney fühlt sich bedrängt.

Boyle, 1948 in Peekskille, New York geboren, ist ein Chamäleon unter den amerikanischen Schriftstellern, er bedient mit großer handwerklicher Kunst die unterschiedlichsten Genres: Sein erster Roman – die fantastische, 1982 erschienene „Wassermusik“ – führte den Historischen Roman in den USA zu neuer Größe. „Ein Freund der Erde“ von 2000 kann zum Genre der Science-Fiction gezählt werden. Und Bücher wie „Dr. Sex“ (2005) oder „Die Frauen“ (2009) sind biografische Romane, die sich mit dem Leben des Sexualforschers Alfred C. Kinsey bzw. des Architekten Frank L. Wright beschäftigten. So breit gefächert Boyles Themen und Gattungen, so gleichbleibend vollendet ist sein Stil, der neben Ironie und Spannung vor allem von der mitreißenden Zeichnung seiner Charaktere lebt. Und so lachen und leiden wir auch in „ América“ mit den Figuren, sind gespannt auf den Schluss und ahnen schon früh: Ein Happy End ist nicht in Sicht. Aber T. C. Boyle wäre nicht Thomas Coraghessan Boyle, wenn er nicht seine Story mit einem wortwörtlich feurigen Showdown enden ließe. Ein positiver Schluss ist kaum möglich, eine grandiose Geste der Versöhnung aber schon. Und so atmet man am Ende dieser knapp 400 Seiten tief auf und wird nie wieder einen Gastarbeiter, Ausländer oder Bettler mit den gleichen Augen betrachten wie zuvor. Was uns zur Ausgangsfrage zurückbringt: Nein, ein Buch kann die Welt nicht verändern. Aber ein sehr gutes Buch kann seine Leserinnen und Leser verändern – und das ist schon sehr, sehr viel.
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