Zukunftsaufgabe Pflege
Von Stephan Scoppetta
Pflege ist zur Schicksalsfrage einer alternden Gesellschaft geworden. Laut Prognosen werden bis 2050 rund 120.000 Menschen mehr Betreuung benötigen als heute – allein in Niederösterreich steigt die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit 60.000 auf fast das Doppelte.
Schon jetzt fehlen tausende Fachkräfte, und der Druck auf das System wächst. In diesem Umfeld wird deutlich: Es braucht nicht nur mehr Personal, sondern neue Strukturen, vernetzte Ausbildung und moderne Arbeitsbedingungen. Pflege ist längst nicht mehr eine Frage der Sozialpolitik, sondern ein zentraler Standortfaktor.
Wenn immer mehr Menschen pflegebedürftig werden, während die Zahl der Erwerbstätigen stagniert, gerät das gesamte System ins Ungleichgewicht. Lösungen müssen daher über den Gesundheitsbereich hinausgedacht werden – von Bildung über Digitalisierung bis zur regionalen Raumplanung.
Großer Reformbedarf
„Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos“, sagt Klaus Schwertner, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien. „Heute sind so viele Menschen in der Pflege beschäftigt wie noch nie, aber bis 2030 brauchen wir rund 50.000 zusätzliche Pflegekräfte.“ Der entscheidende Hebel liege bei jenen, die bereits im Beruf stehen: „Viele Teilzeitbeschäftigte würden gerne mehr Stunden arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“
Laut einer Caritas-Studie wären 34 Prozent der Teilzeitkräfte dazu bereit – bei stabilen Dienstplänen, fairer Bezahlung und mehr Planungssicherheit. Schwertner fordert zudem einen österreichweiten Digitalisierungsfonds, um die Dokumentationslast zu senken: „Unsere Mitarbeiter verbringen bis zu drei Stunden täglich mit Dokumentation."
Digitale Systeme könnten das halbieren und Zeit für den Menschen schaffen.“ Wichtig sei aber auch ein einheitlicher Personalschlüssel und ein bundesweit abgestimmtes Qualitätsmanagement. „Neun verschiedene Systeme der Personalberechnung sind ineffizient. Wir brauchen ein gemeinsames Fundament für alle Träger, unabhängig vom Bundesland.“
Hebel Ausbildung
Auch Bettina Koller-Resetarics, Fakultätsleiterin Gesundheit an der Fachhochschule Wiener Neustadt, sieht die Ausbildung als Schüssel zur Zukunftssicherung. „Derzeit befinden sich rund 450 Studierende in einem Pflegestudium an unserem Campus – Tendenz steigend.“ Neben 185 Anfängerplätzen pro Jahr werden Praxisphasen und internationale Kooperationen ausgebaut.
Besonders wichtig sei, jungen Menschen die Vielfalt des Berufs zu zeigen: „Wir erleben ein wachsendes Interesse, auch von Männern. Pflege bietet Sinn, Verantwortung und Karrierechancen.“ Die FH setzt auf Spezialisierungen und digitale Kompetenzen: „Pflegeexperten mit akademischer Weiterbildung verhindern Komplikationen, verkürzen Spitalsaufenthalte und verbessern die Versorgungsqualität.“
Digitale Systeme und KI sollen Abläufe vereinfachen und Pflegende von administrativen Aufgaben entlasten – damit mehr Zeit für die Arbeit am Menschen bleibt. Zugleich brauche es attraktive Weiterbildungswege. ,,Pflege wird sich stärker differenzieren – vom Community Nursing über Prävention bis zur Telepflege. Wer heute studiert, gestaltet morgen die Zukunft eines ganzen Berufsbildes“, bekräftigt Koller-Resetarics.
Attraktive Arbeitgeber
Im blau-gelben Bundesland bildet die Niederösterreichische Landesgesundheitsagentur (LGA) an elf Schulstandorten jährlich rund 1.000 Pflegekräfte aus, ergänzt durch FH-Programme in Krems, St. Pölten und Mauer. „Etwa die Hälfte bleibt bei uns im Landesdienst“, sagt Elisabeth Bräutigam, Vorstandsmitglied der LGA. Um neue Kräfte zu gewinnen, setzt man auf Social-Media-Recruiting, Karriereevents und internationale Anwerbung. „In Niederösterreich entscheiden sich 60 bis 70 Prozent der Pflegeauszubildenden für den zweiten Bildungsweg. Wir müssen diesen Menschen Perspektiven bieten.“
Dazu zählen flexible Arbeitszeiten, Kinderbetreuung, Pflegepools und finanzielle Vorteile wie Fahrtkostenzuschüsse oder zusätzliche freie Tage. Bräutigam betont: „Bis 2040 wird fast jeder dritte Niederösterreicher über 65 sein. Wir brauchen langfristige Planung, um die Versorgung zu sichern.“
Der demografische Wandel erfordert daher eine strategische Personalentwicklung. Bräutigam: „Es geht nicht nur um Rekrutierung, sondern auch um Bindung. Unsere Mitarbeiter sollen bleiben, weil sie sich wohlfühlen und weiterentwickeln können.“
Zukunft und Perspektiven
Das Hilfswerk Niederösterreich zählt mit 2.800 Mitarbeitern zu den größten Arbeitgebern im Land. „Der Personalmangel wird uns weiter begleiten, aber wir können gegensteuern, indem wir Menschen für den Pflegeberuf begeistern“, sagt Gabriela Goll, Pflegedirektorin und Geschäftsbereichsleiterin Hilfe und Pflege.
Gesucht werden nicht nur junge Menschen, sondern auch Quereinsteiger. „Viele, die mitten im Leben stehen, entdecken in der Pflege eine sinnvolle Tätigkeit. Wir bieten flexible Modelle, von geringfügig bis 37 Wochenstunden, und legen Wert auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie.“
Eine Vier-Tage-Woche, keine Nachtdienste und laufende Weiterbildung sollen den Beruf attraktiver machen. „Die Behauptung, dass niemand in der Pflege arbeiten möchte, stimmt nicht. Der Bereich wächst, aber der Bedarf wächst schneller.“
Gleichzeitig brauche es mehr Bewusstsein in der Gesellschaft. Goll: „Pflege ist kein reiner Frauenberuf mehr. Wir sehen immer mehr Männer, die Verantwortung übernehmen – und das ist eine gute Entwicklung.“
Innovation in der Pipeline
Zukunftsweisende Modelle wie Telepflege, robotische Assistenzsysteme oder KI-gestützte Diagnostik werden in den nächsten Jahren stärker an Bedeutung gewinnen. In mehreren Pilotprojekten erproben Pflegeeinrichtungen bereits digitale Tools, die Pflegende entlasten und Angehörige einbinden.
Entscheidend wird sein, dass Technologie nicht den Menschen ersetzt, sondern unterstützt. Nur wenn Digitalisierung, Ausbildung und Empathie Hand in Hand gehen, kann die Pflege nachhaltig modernisiert werden.
Österreich hat mit seinen engagierten Trägern, Hochschulen und Landesinitiativen beste Voraussetzungen, zum Vorbild für eine integrative Pflege der Zukunft zu werden.
Gemeinsame Aufgabe
Ob Caritas, Fachhochschule Wiener Neustadt, Landesgesundheitsagentur oder Hilfswerk – sie alle ziehen an einem Strang, um die Pflege zukunftssicher zu machen. Neben besserer Bezahlung, Planbarkeit, Innovationen und Ausbildung braucht es gesellschaftliche Wertschätzung. Pflege ist mehr als ein Beruf: Sie ist eine zentrale Aufgabe für das ganze Land.
Schwertner betont: „Alle Initiativen, die den Pflegeberuf sichtbarer machen und das Bewusstsein in der Gesellschaft stärken, sind wichtig. Denn Pflege geht uns alle an.“ Wenn es gelingt, Menschen, Bildung und Politik an einem Tisch zu vereinen, könnte aus der aktuellen Krise ein Modernisierungsschub für das gesamte Gesundheitswesen entstehen.
Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob Österreich es schafft, Pflege neu zu denken – als integrierten Bestandteil sozialer Infrastruktur, als attraktives Berufsfeld und als Schlüssel für Lebensqualität im Alter. Dafür braucht es Mut zur Veränderung und eine gemeinsame Vision.
Stephan Scoppetta
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