Gesundheitssystem am Limit

Ein Stethoskop liegt auf einem geöffneten Notizbuch, während eine Person im Hintergrund schreibt.
Medizinische Versorgung. Österreich investiert stark in Gesundheit, doch trotz hoher Qualität wächst der Druck im System: Personalmangel, lange Wartezeiten und ineffiziente Strukturen gefährden die Versorgung.

Von Stephan Scoppetta

Ein Vormittag in einer Wiener Arztpraxis, Dutzende Menschen warten dicht gedrängt, Termine werden verschoben. Auch die meisten Fachärzte sind auf Monate ausgebucht. 

Laut Statistik Austria gab es 2024 rund 90 bis 100 Millionen ambulante ärztliche Behandlungen – das sind im Schnitt mehr als 1.000 Arztkontakte pro Jahr und 100 Einwohner. Termine bei Kassenärzten sind in vielen Regionen kaum mehr zu bekommen, neue Patienten warten oft monatelang auf Facharzttermine. 

Hausbesuche werden eingeschränkt, Impfungen seltener angeboten. Für Michaela Wlattnig, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der PatientInnen- und Pflegeanwaltschaften Österreichs, steht fest: „Der hausärztliche Bereich als Eintrittspforte in das System muss dringend attraktiver und entbürokratisierter werden.“

Spitäler unter Druck

Mit der Überlastung in den Ordinationen steigt auch der Druck auf die Spitäler. 2023 verzeichnete Statistik Austria rund 2,3 Millionen Krankenhausaufenthalte – das entspricht 247 pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Österreichs Spitäler zählen zu den bestausgestatteten Europas, doch Betten bleiben leer. „Nach wie vor gibt es Bettensperren und nicht bespielbare Operationssäle aufgrund von Personalmangel, häufig in der Pflege“, sagt Wlattnig. 

Die Folge seien lange Wartezeiten auf planbare Eingriffe und mehrfach verschobene Operationstermine. Besonders für berufstätige Patienten bedeute das erhebliche Belastungen – gesundheitlich wie sozial. „Auch bei nicht dringlichen Operationen drohen Schädigungen durch die lange Einnahme von Schmerzmitteln oder Antibiotika“, warnt Wlattnig.

Strukturen blockieren

Mit 57 Milliarden Euro oder 11,8 Prozent des BIP liegen Österreichs Gesundheitsausgaben im Spitzenfeld Europas. 76 Prozent stammen aus öffentlichen Mitteln, 24 Prozent aus privaten Haushalten und Versicherungen. Dennoch zeigt sich das System zunehmend unkoordiniert. 

Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer spricht von einer „Versteinerungstheorie der Verfassung“: „Unsere Zuständigkeiten stammen aus 1920, die Denkweise aus dem 19. Jahrhundert. Wir reden über Gebäude statt über Prozesse.“ Jede Innovation, die nicht in dieses Raster passe, ende im juristischen Chaos. So werde das Gesundheitswesen an „Mauern“ festgemacht, statt an Patientenwegen.

Systemische Fehlanreize

Hinzu kommt eine ineffiziente Finanzierungslogik. „Es wird entlang von Zuständigkeiten, nicht nach Bedarf organisiert“, so Pichlbauer. Kassen folgten einer betriebswirtschaftlichen Logik, Spitäler einer politischen. „Wir gehen europaweit am häufigsten zum Arzt und liegen am längsten im Spital, aber die Gesundheitsergebnisse sind nur Mittelmaß.“ Die OECD bestätigt diese Diagnose: Mit 6,9 Spitalsbetten je 1.000 Einwohner liegt Österreich klar über dem EU-Schnitt, während die Primärversorgung schwach ausgebaut bleibt.

Den vielbeschworenen Ärztemangel hält Pichlbauer für ein Symptom falscher Anreize. „Über Jahrzehnte haben sich Spitäler an billige Turnusärzte gewöhnt – sie waren das Rückgrat der Versorgung. 

Der Wahlärztebereich hat sich dann zu einem attraktiveren Berufsfeld entwickelt als der Kassenbereich.“ Geld spiele dabei eine geringere Rolle als vermutet, entscheidend seien Strukturen und Arbeitsbedingungen.

Reform als Chance

Die Zahl der Ärzte ist mit 52.000 auf Rekord Niveau, doch ein Drittel steht kurz vor der Pension. Regional zeigen sich große Unterschiede: Wien zählt mehr als 680 Ärztinnen pro 100.000 Einwohner, manche ländliche Bezirke weniger als 450. 

Während die Behandlungsqualität hoch bleibt – Platz 9 im Euro Health Consumer Index 2025 – verschlechtern sich Wartezeiten und Transparenz. Laut OECD liegt Österreich zwar über dem EU-Durchschnitt bei Lebenserwartung (82,1 Jahre) und Behandlungsqualität, doch weit zurück bei Digitalisierung und Effizienz.

Gemeinsame Auftrag

Für Wlattnig ist klar: „Gesundheitsversorgung heißt immer auch Pflegeversorgung. Beide Bereiche müssen gemeinsam gedacht und geplant werden.“ Sie fordert eine Finanzierung aus einer Hand sowie eine regionale statt landesbezogene Planung der Spitalsversorgung. Digitalisierung könne dabei helfen, Patientensicherheit zu stärken – wenn sie konsequent umgesetzt werde.

„ELGA ist ein Stückwerk, wir warten seit Jahren auf das Patient Summary und die Integration von Patientenverfügungen“, sagt sie.

Pichlbauer sieht Österreich vor einer Weggabelung: „Ohne Verfassungsänderung droht der Kollaps. Mit einer echten Neuordnung von Zuständigkeiten wäre dagegen viel zu gewinnen.“ 

Beide Experten eint die Einschätzung, dass Geld allein das Problem nicht löst. Es geht um ein System, das wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt und Strukturen, die nicht länger verhindern, was längst möglich wäre.

Stephan Scoppetta

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