„Eine Frage der nationalen Sicherheit“

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Österreichs Versorgungssicherheit gerät unter Druck: Abhängigkeiten und sinkende Forschungs- attraktivität gefährden das System. Merck-Geschäftsführer und FOPI-Präsident Leif Moll fordert rasches Gegensteuern.

Von Sandra Wobrazek

Wie sicher ist Österreichs Zugang zu Medikamenten? Die Frage entscheidet längst nicht nur über Therapiequalität, sondern über Resilienz, Standortstärke und gesellschaftliche Stabilität. 

Leif Moll, Geschäftsführer von Merck und Präsident des FOPI (Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie), erklärt im KURIER-Interview, warum Versorgungssicherheit ein strategisches Sicherheitsversprechen des Staates ist – und wie Österreich seine Rolle als Life-Science-Standort behaupten kann.

KURIER: Herr Moll, für Sie ist Arzneimittelversorgung eine Frage der nationalen Sicherheit. Hängen Sie das Thema nicht etwas zu hoch?

Leif Moll: Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln ist heute natürlich ein Sicherheitsfaktor für ein Land – vergleichbar mit Energie oder digitaler Infrastruktur. Wenn Europa und damit Österreich von wenigen Produktionsstandorten außerhalb der EU abhängig sind, wird das System im Krisenfall verwundbar – wir erinnern uns noch an die Corona-Pandemie und die Flugzeuge mit Medizinprodukten, die plötzlich umgeleitet wurden. 

Auch heute sehen wir: Die Zahl der Engpässe steigt, Lieferketten geraten unter Druck, und Therapien müssen improvisiert werden. Für ein Land wie Österreich heißt das: Wir müssen frühzeitig auf stabile Zugangswege, starke Forschung und ausreichend lokale wie europäische Produktionskapazitäten setzen. Sicherheit entsteht durch Redundanz, z. B. in Form mehrerer qualifizierter Lieferanten, nicht durch Minimalstrukturen.

Trotz hoher Forschungsquote warten Patientinnen und Patienten im Schnitt 15,4 Monate auf neue Therapien. Wie erklären Sie diesen Widerspruch? 

Das ist nur kurzfristig ein Widerspruch: Im internationalen Standortwettbewerb findet Forschung vor allem dort statt, wo Aussicht auf einen zeitnahen Marktzugang besteht. 

Eine detaillierte Analyse eines unabhängigen Health-Consulting-Unternehmens im Auftrag von FOPI & PHARMIG zeigt allerdings, dass Patienten in Österreich im niedergelassenen Bereich recht lange auf zugelassene Innovationen warten müssen – u. a. länger als in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas. Und ein schwerfälliger Zugangspfad lässt Innovation eben auf Sicht abwandern.

Europa verliert bei klinischen Studien massiv an Boden – der Anteil sank seit 2009 auf 21 Prozent. Welche Sicherheitsrisiken hat das für ein kleines Land wie Österreich? 

Wenn klinische Studien in die USA und nach China abwandern, verlieren wir nicht nur Forschungskompetenz, auch dauert es länger, bis Innovation im klinischen Alltag ankommt, weil dem ärztlichen Personal die frühe Erfahrung mit den neuen Substanzen fehlt. 

Menschen in Österreich erhalten innovative Therapien später oder schlimmstenfalls gar nicht und das betrifft gerade auch schwere, lebensbedrohliche Erkrankungen. Gleichzeitig entgehen uns wirtschaftliche und wissenschaftliche Impulse: Studien generieren Wertschöpfung, schaffen qualifizierte Arbeitsplätze und entlasten das Gesundheitssystem. 

Wenn Europa hier weiter an Boden einbüßt, verliert es nicht nur Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch Resilienz.

Viele Engpässe sind mittlerweile strukturell. Reicht die neue österreichische Bevorratungsregelung, um das System stabiler zu machen? 

Wir sehen nationale Alleingänge bei der Bevorratung kritisch. Vier Monate Vorrat mögen die kurzfristige Resilienz erhöhen, aber sie schaffen sicher keine strategische Autonomie. 

Solange Wirkstoffe und produktionstechnische Schlüsselkomponenten größtenteils aus Drittstaaten kommen, bleibt Europa abhängig. Bevorratung ist Feuerwehr – wir brauchen Brandschutz. 

Das heißt: Investitionen in europäische Produktionskapazitäten, attraktive Rahmenbedingungen für Forschung und eine nachhaltige Preis- und Erstattungspolitik, die versteht, dass Versorgungssicherheit einen Preis hat.

Wie stark ist Österreich noch als Life-Science-Standort und wie lange bleibt das Fenster offen? 

Österreich ist nach wie vor ein starker Innovator. Unsere Forschungsquote liegt mit 3,35 Prozent stabil über dem EU-Ziel, und wir haben eine wachsende Life-Science-Community mit hoher Expertise. 

Aber der Vorsprung schmilzt. Die internationale Konkurrenz jenseits des Atlantiks und in Fernost zieht aggressiv Investitionen an und schafft schneller Zugang zu Studien und neuen Therapien. 

Wenn wir jetzt nicht handeln, riskieren wir, abgehängt zu werden. Das ist ein strategischer Wendepunkt für Österreich und für Europa.

Die Bundesregierung plant eine Life-Science-Strategie. Was braucht es, damit sie mehr ist als ein gutes Konzept? 

Wir kennen die acht Handlungsfelder und sie sind richtig: beschleunigter Zugang, starke klinische Forschung, Dateninfrastruktur, Produktion, Talente, Finanzierung, Vertrauen in Wissenschaft und europäische Standortpolitik. 

Entscheidend ist jetzt die Umsetzung, und zwar zügig. Wir müssen vom Ankündigen ins Tun kommen. Das heißt: die Zusammenhänge verstehen, Verantwortlichkeiten klären, Zeitleisten definieren und die Industrie als Partner einbinden.

Eine erfolgreiche Strategie erkennt man an Investitionsentwicklung, Forschungsaktivität und daran, ob Patienten spürbar schneller Zugang zu innovativen Therapien erhalten.

Was motiviert die Industrie, in Österreich zu investieren, und was schreckt sie ab? 

Investitionsentscheidungen in unserer Industrie wirken langfristig und hängen deshalb stark von Planungssicherheit ab. Österreich bietet gut ausgebildete Fachkräfte, eine starke Universitätslandschaft und sinnvolle Förderstrukturen. 

Herausforderungen sind der verzögerte Marktzugang, die für ein vergleichsweise kleines Land ausgeprägte Bürokratie und die Inflation der letzten Jahre. 

Wir brauchen ein Umfeld, in dem Unternehmen verlässlich planen können und in dem Innovation und Versorgungssicherheit als gesamtgesellschaftliche Wert anerkannt sind.

Viele Bürger fühlen sich durch mögliche Medikamentenengpässe bedroht. Wie beurteilen Sie diese Stimmungslage? 

Diese Wahrnehmung ist berechtigt. Der Austrian Health Report zeigt klar: Die Menschen sehen Medikamentenengpässe als eines der größten Sicherheitsrisiken. 

Und sie haben recht. Wenn ein kritisches Arzneimittel fehlt, entsteht ein Problem, das im Alltag unmittelbar spürbar ist. Gleichzeitig zeigt der Bericht aber auch: Die Bevölkerung unterstützt Maßnahmen, die Versorgungssicherheit erhöhen – inklusive heimischer oder europäischer Produktion.

Was wäre jetzt der wichtigste Schritt für Österreich? 

Wir müssen den Zugang zu innovativen Therapien im Spital sichern und im niedergelassenen Bereich beschleunigen. Das ist der Hebel, der Standort, Forschung, Versorgungssicherheit und gesellschaftliche Stabilität gleichzeitig stärkt. 

Wenn Patientinnen und Patienten schneller die bestmögliche Behandlung erhalten, stärkt das Vertrauen in das System und Vertrauen ist ein Sicherheitsfaktor. 

Parallel dazu müssen wir die klinische Forschung stabilisieren, Produktionsstrukturen stärken, also die Life-Science-Strategie konsequent umsetzen.

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