Ruth Paulis "Alt, na und?": Zum zweiten Mal das erste Mal?

„Was würden Sie sich von einer guten Fee wünschen,“ soll eine Zeitung einmal Ernest Hemingway gefragt haben. Sicher hatte man sich schon auf die Macho-Antwort des Schriftstellers gefreut, dessen Leidenschaften ja Suff, Schießwaffen und Stierkämpfe waren. Aber unverhofft kommt oft. „Ich würde mir wünschen, noch einmal Beethovens Fünfte zum ersten Mal zu hören.“ Überraschend ist nicht die Liebe des Raubeins zur klassischen Musik – aber die Sehnsucht zurück zum ersten Mal kommt doch unerwartet.
Dieses unwiederbringliche Gefühl, das alles in ein „Davor“ und ein „Danach“ teilt, das nicht zu wiederholen ist – es sei denn, eine gute Fee schaltet sich ein. Jeder kennt es – und weil man mit den Jahren immer öfter zum Bilanzbuchhalter des eigenen Lebens wird (schließlich hat man viel zu viel Zeit zum Nachdenken), hängt man solchen besonderen Momenten oft nostalgisch nach.
Zugegeben, manchmal sind diese Glücksgipfel der Vergangenheit durch den Weichzeichner der Erinnerung in ein Licht getaucht, dessen Gold nicht echt ist. Die schönsten Erinnerungen, meinen manche, macht man sich selbst. Angeblich ist der erste Kuss so ein nicht wiederholbares Glücksgefühl. Naja – war er das wirklich oder wurde der pickelige Frosch nur durch den freundlichen Filter abnehmender Gedächtnis-Schärfe zum Märchenprinzen? Oder der erste Ball? Eigentlich hatte das Gedränge auf der Tanzfläche nichts mit den hochgesteckten Cinderella-Erwartungen zu tun. Die erste Flugreise? Was war wirklich stärker – das (sorgfältig versteckte) Angst-Bauchweh oder das Erleben der Freiheit über den Wolken, die uns Reinhard Mey schönsang?
Aber vielleicht steckt in der Hemingway-Weisheit etwas ganz anderes. Das erste Mal öffnet eine Tür in eine neue Welt: Da hört man ein Musikstück zum ersten Mal und taucht so tief in etwas Unbekanntes, dass man immer mehr entdecken möchte von diesem Komponisten, von dieser Epoche, vom riesigen Kontinent Kunst. Wenn man es so betrachtet, dann verliert der Gedanke an „das erste Mal“ jede nostalgisch-verklärende Wehmut. Dann wird er zu einer Chance, noch dazu zu einer Chance, die gerade wir Alten nützen können.
Vor der Nase
So viel gibt es, wofür nie Zeit gewesen ist, wofür die Gelegenheit, vielleicht auch nur die (innere) Ruhe gefehlt hat. Es muss ja nicht gleich der Tandem-Sprung aus 200 km Höhe sein. Manchmal liegen neue Welten jahrelang unbemerkt vor unserer Nase. Hunderte Male ist man an diesem Baum vorbeigegangen und dann sieht man ihn plötzlich wie zum ersten Mal und eine Liebe zu Bäumen erwacht und wird zur botanischen Leidenschaft. Immer schon wollte ich malen – also her mit Leinwand, Pinsel und Farben. Es ist nie zu spät fürs erste Mal. Nur nicht zögern und ja nicht aufschieben. Wir müssen uns schon sagen: Jetzt oder nie. Also: Wann, wenn nicht jetzt?
altnaundRuth Pauli (71) war viele Jahre innenpolitische Kolumnistin des KURIER

Kommentare