Nur ein Taschentuch

Nur ein Taschentuch
Über die große Auswirkung von kleinen Gesten.
Anna-Maria Bauer

Anna-Maria Bauer

Es war einer von diesen Tagen: Die Geschichten entwickelten sich nicht so , wie sie sollten, das abendliche Treffen war kurzfristig abgesagt worden, und der Backofen hatte tags zuvor seinen Geist aufgegeben. Nicht prickelnd, aber auch nicht wirklich dramatisch. Aber manchmal reicht die Anhäufung von Kleinigkeiten, um verärgert zu sein. Und zu spät dran war ich an dem Tag auch.

Ich hastete die Rolltreppe zur U-Bahn hinauf, zwängte mich an Personen vorbei, die viel zu wenig rechts standen, sprintete zur offenen Tür und – wumms! – bekam sie vor der Nase zugeschlagen. Drei Minuten Wartezeit bis zur nächsten U-Bahn fühlten sich wie 30 an. Ich holte also eine Flasche Apfelsaft gespritzt aus der Tasche, öffnete sie – und das durchs Laufen durchgeschüttelte Getränk sprudelte über die Hand.

Über den Mantel.

Über die Schuhe.

Natürlich. Und nichts dabei, um die klebrige Flüssigkeit abzuwischen. Vom Fußaufstampfen – um dem Ärger Ausdruck zu verleihen – erntete ich nur irritierte Blicke, was mich noch ein bisschen böser auf die Welt machte.

„Brauchen Sie ein Taschentuch?“ Eine junge Frau sah mich an, reichte mir ein frisches Tuch, nickte kurz und verschwand wieder in der Passantenmenge. Noch während ich mich abwischte, merkte ich, dass ich lächelte.

Es braucht meist nicht viel – ein Lächeln, ein Blick, eine kleine Hilfeleistung –, und man fühlt sich gesehen, verstanden, nicht mehr alleine, auch wenn man davor nicht allein war.

Das Erlebnis erinnert mich an eine Kurzgeschichte, die ich als Kind gelesen habe. Ein Mädchen wird in der Bahn ohne Ticket erwischt, und ein Bub hilft ihm, gibt ihm das Geld und meint: „Gib es mir nicht zurück, gib es weiter.“ Das tut es dann auch und sagt den gleichen Satz zu derjenigen Person, der es aus der Patsche hilft. Dabei wird die verborgte Menge wie bei einem Schneeball immer größer und größer.

Ein schöner Gedanke.

Also halte ich nun die Augen offen für jene Situation, in der ich das metaphorische Tuch weiter geben kann.

 

annamaria.bauer@kurier.at

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