Wenn sich Nebel zu lichten beginnen

Mehrere Personen rennen in einem nebligen Raum mit ausgestreckten Armen.
„Blutiger Sommer“ basiert auf Zeitzeug_innen-Gesprächen politischer Gefangener im Iran nach der "islamischen Revolution" 1979.

Anfangs (fast) nichts zu sehen. Dichter Nebel wie Tränengaswolken – schon klar, Theaterrauch. Die anfangs noch zu sehenden drei Gestalten sind nur mehr schemenhaft, zeitweise auch gar nicht mehr auszunehmen. Sie laufen. Vermitteln dabei eine Mischung aus Hoffnung und Angst. Davonrennen, entkommen wollen. Die Nebel lichten sich. Die drei auf der Bühne - Simonida Selimović, Karim Rahoma, Morteza Tavakoli – tragen ganz dunkle Brillen. So startet „Blutiger Sommer“, derzeit im Werk X Petersplatz.

Ein Mann mit Bart blickt nach oben.

Morteza Tavakoli

Hoffnung zerbrochen

In kurzen, wenigen Sätzen, fast abgehackt schildern die drei Darsteller_innen den Ausgangspunkt: Demos gegen die Schah-Diktatur im Iran, für Freiheit und Demokratie. Eine kurze Phase der  Hoffnung (Anfang 1979). Der glänzende Hoffnungsschimmer für viele, der vom kaiserlichen Regime vertriebene, zuletzt auch aus dem Irak ausgewiesene in Paris lebende Kopf der Exil-Regierung, der religiöse Führer Ayatollah Khomeini. Von ihm ließen sich viele verblenden – dafür stehen die dunklen Brillen.

Schon bald nach seiner Rückkehr nach Teheran begann er die vorherige durch eine neue, diesmal religiös verbrämte Diktatur zu ersetzen. Viele Menschen, die gegen die Schah-Diktatur protestiert haben und dafür eingesperrt und gefoltert worden sind, erleiden das gleiche Schicksal unter anderen Vorzeichen.

Eine Frau steht auf einer dunklen Bühne, während andere Personen Dominosteine aufstellen.

Simonida Selimović

Als Kind eingesperrt

Stückautor und Regisseur Alireza Daryanavard hat Aufzeichnungen, Interviews, Erzählungen Überlebender gesammelt, einige selber – im Exil vor allem in Deutschland – getroffen und daraus das genannte Stück geschrieben und inszeniert. Aus den vielen Lebensgeschichten hat er drei Protagonist_innen herausgeschält. Morteza Tavakoli verkörpert ein Kind, das in einem berüchtigten Foltergefängnis geboren wurde und nichts anderes kennt als die Enge der Zelle und die Angst. Von seinem Vater weiß er nur, dass das neue Regime ihn umgebracht hat. Als er im Alter von neun Jahren von den Großeltern aufgenommen wird, erschlägt ihn die Größe der Welt da draußen fast. Selbst Spielzeug ist für ihn total unbekannt, die einzigen Spielgefährten hinter Gittern waren Ameisen. Für ihn sind die Gebete des Großvaters anfangs kaum zu ertragen, erlitt er doch im Gefängnis die fast ständige Beschallung mit Koran-Versen. Seine Mutter sieht er nie wieder, nur irgendwann werden die Großeltern verständigt, eine Tasche aus dem Gefängnis abzuholen – ihre wenigen Habseligkeiten.

Alexander Gotter steht in einem dunklen Raum unter hellen Deckenleuchten.

Karim Rahoma

Plus Originalstimmen

Simonida Selimović spielt eine linke politische Aktivistin, die von ihrem geliebten Ehemann getrennt wird, schwanger ist. Das kümmert die Folterer aber genau gar nicht. Und Karim Rahoma wird im Gefängnis, in das er – wie Tausende andere – willkürlich von der Straße weg gekapert wird, schikaniert und malträtiert, weil er es wagte, Nouruz, das persische Neujahrsfest, zu feiern.

Neben den drei verdichteten Leidensgeschichten, laufen dazwischen mehrmals Originalstimmen von Zeitzeug_innen – mit großen deutschen Untertiteln – ab.

Drei Personen sitzen auf einer dunklen Bühne vor einem Text, der an die Wand projiziert wird.

Zeitzeug_innen-Zitate im Hintergrund eingeblendet

Wie im engen Käfig

Rastlos hetzen die Inhaftierten in ihren engen, schmalen - hier unsichtbaren – Zellen auf und ab, auf und ab, hin und her, hin und her. Mit wenigen Habseligkeiten – Bausteine, Kugeln usw. bauen sie sich auf dem Boden Ablenkungswelten. Schildern dazwischen ihre Schicksale, die stellvertretend für Tausende politische Gefangene (nicht nur) im Iran stehen. Auch die Versuche von „umgedrehten“ Spitzeln des Systems angeworben zu werden. Diese Protagonist_innen widerstehen natürlich. Aber es lässt sich nachvollziehen, dass das nicht alle schaff(t)en.

Knapp mehr als eineinhalb Stunden dichtes, heftiges (Schau-)Spiel echter – viel zu wenig bekannter Geschichten. Obwohl zeitlich und räumlich vielleicht einigermaßen weit weg, schafft das Trio in dieser Inszenierung, Leidens- und Lebensgeschichten dem Nebel des Vergessens zu entreißen. Die grausame, blutige Realität wird in einer argen Szene von Simonida Selimović mit Hilfe eines zermerscherten Granatapfels massiv verdichtet.

Eine geöffnete Granatapfel liegt neben einer Schüssel und verstreuten Kernen auf einem Tuch.

Verbindungen zu hier und heute

Und bedrückend schriftliche Einblendungen gegen Ende: Welche Länder Waffen im achtjährigen Krieg Iran/Irak, die die Lage für politische Gefangene noch verschlimmerte, an beide Seiten lieferte. Und welche für Todesurteile verantwortliche Machthaber und Richter im Iran heute noch in führenden Positionen entscheiden.

Das Stück lichtet Nebel über fast im Verborgenen begangene Verbrechen, deutet darüber hinaus Strukturen und Muster undemokratischer, diktatorischer Systeme an.

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Mehrere Personen rennen in einem nebligen Raum mit ausgestreckten Armen.

Ein Mann mit Bart blickt nach oben.

Alexander Gotter steht in einem dunklen Raum unter hellen Deckenleuchten.

Drei Personen sitzen auf einer dunklen Bühne vor einem Text, der an die Wand projiziert wird.

Alexander Gotter steht vor einer Reihe Dominosteine.

Eine geöffnete Granatapfel liegt neben einer Schüssel und verstreuten Kernen auf einem Tuch.

Alexander Gotter liest ein großes Blatt Papier.

Alexander Gotter spielt auf einem verzierten Streichinstrument.

Eine Frau steht mit einer Kette in der Hand auf einer dunklen Bühne.

Drei Personen stehen in einem dunklen Raum, auf den Text projiziert wird.

Alexander Gotter steht in einem dunklen Raum und blickt nach oben.

Eine Frau steht auf einer dunklen Bühne, während andere Personen Dominosteine aufstellen.

Eine Frau hockt auf dem Boden und blickt über ihre Schulter.

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Eine Frau steht in einem Kreis aus Ketten auf einer dunklen Bühne.

Zwei Männer stehen an den Seiten einer dunklen Bühne, während eine Frau in der Mitte geht.

Alexander Gotter in einer Szene aus „Blutiger Sommer“.

Alexander Gotter in einer Szene aus „Blutiger Sommer“.

Alexander Gotter steht neben einer Reihe Dominosteine und einem Turm aus Holzklötzen.

Eine Frau hält einen roten Apfel in ihren Händen, möglicherweise auf einer Theaterbühne.

Eine Frau steht in einem Raum mit einer Kette um ihre Füße.

Alexander Gotter steht mit einer Frau im Nebel.

Alexander Gotter in einer Szene aus „Blutiger Sommer“.

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