Mein Kopf wird euch auch nicht retten
Durch das verschmierte Glas beobachtet sie, wie die ersten Sonnenstrahlen hinter den Bergen herausbrechen. Langsam färben sich die Wolken am Himmel rosé-farben und malen
die Bergspitzen lila. Sie wünscht sich, sie könnte die Sonne nicht nur in der Distanz lächeln sehen, wünscht sich, sie könnte sie auf ihrer Haut spüren, im Gras liegend, in Freiheit.
Ihr Kopf wird schwer, alles dreht sich und sie schließt die Augen. Vielleicht bleibt die Welt so schneller stehen. Der eine Satz taucht in ihren Gedanken auf. Mein Kopf wird euch auch nicht
retten.
Sie erinnert sich gut an den Moment, als sie den Brief las. Schwarz waren nicht nur die Buchstaben auf dem verblichenen Papier. Schwarz war der Inhalt selbst, der seine Finger um
ihr Herz schloss. Immer und immer wieder von neuem las sie ihn, glauben wollte sie es trotzdem nicht.
Der Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Wien teilt mit: Das Todesurteil wurde an den Verurteilten Franz Strohmer am 19.November 1943 in der Zeit von 18 Uhr 9 Minuten bis 18
Uhr 17 Minuten vollstreckt. Die Vollstreckung verlief ohne Besonderheiten und dauerte wenige Sekunden.
Natürlich hätte sie damit rechnen müssen. Was hätte man anderes von einer Zeit erwarten können, in der Gewalt Routine und verdrehte Ansichten die Norm waren. Aber in dem
Augenblick war ihr das gleich. In dem Moment, als ihre Augen hastig über das Papier flogen, hörte sie nur seine Stimme im Kopf, die nie wieder ihren Namen wie einen Ausdruck des
Glücks aussprechen würde, wie er es immer getan hatte.
Ida.
Das Papier, das damals stumm vor ihr auf dem Schreibtisch lag, war nicht das Ende, das wusste sie sofort. Es war eine Weggabelung, die sie vor die Wahl stellte, aufzugeben und
unterzutauchen // oder für das weiterzukämpfen, woran ihr Mann bis zum Tod geglaubt hat Sie wählte Letzteres.
Und nun ist sie hier.
„Mein Kopf wird euch auch nicht retten“, rief er bei seiner Hinrichtung und behielt selbst beim Sterben Recht. Sie können nicht mehr gerettet werden, sie sind blind in ihrem
Wahnsinn, das sah sie auf den ersten Blick.
Sie sah, wie hier die Gefühle ihrer Mitmenschen abstarben und ihr Wille gebrochen wurde, und doch bleibt sie bis jetzt bei all ihren Überzeugungen. Eine Kraft herrscht in ihr, die sie
sich nur mit dem Überlebenswillen erklären konnte. Für ihre Tochter. Für ihr Leben.
Ihre Lider flattern wie zwei gebrochene Flügel, als sie die Augen öffnet. Die Welt ist stehengeblieben. Die Sonne malt weiter Pastellfarben in den Himmel.
Ihr Mann schrieb in den letzten Briefen, dass die Schönheit und der Wert des Lebens nicht in der Länge des Daseins liegen, sondern in seinem Reichtum; und den hat er empfunden.
Sie ist glücklich, das Gleiche sagen zu können.
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