Gier und Gabe

Alles unter Kontrolle – oder gerade verliebt? Gut so, weitermachen. Weil die Liebe uns nicht nur die intensivsten Gefühle, den herrlichsten Sex und die aufregendste Hochschaubahn beschert, sondern weil sie uns das Mensch- sein lehrt. In allen möglichen verrückten Facetten – zum Schreien schön.

1000-mal über Sex geschrieben, und viel zu selten über die Liebe. 1.000-mal gescherzt, aber manchmal vergessen, der Essenz unseres Lebens ein paar Schreibeminuten zu schenken.

Dabei ist gerade sie es, die Liebe, die den Unterschied schafft. Erst das Lieben macht aus uns zugewandte Wesen, die imstande sind, für jemanden anderen etwas zu wagen, zu tun, zu fühlen, da zu sein, zu weinen. Und, ja, auch: zu schreien, zu toben, Grenzgänge zu gehen, sich maßlos zu blamieren, sich nackt zu machen. In der Liebe werden wir so verletzlich wie stark, so verzerrt wie echt.

Das Lieben macht alles, wirklich alles, möglich. Von der ausufernden Leidenschaft bis hin zum sanften, hingebenden Mitgefühl. Von der Gier bis zur Gabe, einfach nur da zu sein, zu warten, zu spüren. Die Liebe ist die Hüterin des Lebens – vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug. Stephens G. Post, Präventivmediziner und Ethiker, hat sich in zahlreichen Büchern mit der Liebe beschäftigt, vor allem mit ihrer „helfenden, hingebenden“ Seite. Für ihn ist sie eine Tugend, von der er sagt: „Strecken Sie sie vor, ohne Rückzahlungsverpflichtung und hoffen Sie, dass Sie andere damit inspirieren, „hinzugehen und desgleichen zu tun“. Er regt an: „Gehen Sie, wachsen Sie, leuchten Sie.“

Apropos wachsen: Die Fähigkeit, ein anderes Wesen zu lieben oder – umgekehrt – Liebe zu empfangen, birgt einzigartige Wachstumschancen. Erst die Liebe macht uns groß und stark, während wir uns gleichzeitig klein und bedürftig fühlen dürfen. Der Psychologe und Psychoanalytiker Robert M. Gordon beschreibt das so: „Liebesbeziehungen bieten uns die Gelegenheit, die Vergangenheit unbewusst zu wiederholen oder an ihr zu wachsen. Wir alle können lernen, durch persönliches Wachstum besser zu lieben.“ Und was es dazu braucht, weiß er auch: Zeit, den Willen und Mut, hart daran zu arbeiten, die Fähigkeit zur Anteilnahme und zur Reue sowie das Gefühl der Verantwortung für die eigene Handlungsweise. Und: den Willen, ein besserer Mensch zu werden. Wo es doch so schön heißt: „Liebe ist nicht die Frage, sie ist die Antwort.“

Einfach macht sie es uns dabei nicht. Gäbe es ein Rezept des Liebens, ich hätte es gerne. Liebe ist, wenn sie ihn ein Leben lang Hasiputzi nennt. Liebe ist, wenn er ihr Tag für Tag eine Rose schenkt. Liebe ist, wenn sie für ihn strippt. Liebe ist, wenn er für sie kocht. Das ist Liebe wirklich: alles und nichts von dem, weil individuell und unmöglich in ein Schema zu gießen. Also gibt’s keine Formel oder „So-geht-das“-Handbuch dafür. Im Lieben tut jeder Mensch, was er kann – um sich vorsichtig voranzutasten, weiter zu probieren, zu wachsen, zu scheitern. In diesem Prozess stecken wir alle in unseren Geschichten und Verstrickungen und sind – der eine mehr, der andere weniger – Gefangene unserer Innenwelten. Irgendwo las ich: „Liebe wird mit Tränen geschrieben.“ So kitschig, so wahr.

Gerade deshalb firmiert sie als universelle Erfahrung in meiner Hitliste der Erfahrungen auf Platz 1. Auch, weil sie – und jetzt sind wir beim Ursprungsthema dieser Kolumne – so herrlich ekstatisch und exaltiert sein kann. Denn auch das ist die Liebe: ein verdammt guter Nachtfilm, den jeder kennt. Und jeder liebt.

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