Genug ist nicht genug
Gesichter im Moment des (in diesem Fall gespielten) Orgasmus. Damit wurde der neue Film „Nymphomaniac“ des dänischen Regisseurs Lars von Trier in seiner Heimat beworben. Und es waren dessen Landsfrauen und Landsmänner, die sein neues Film-Epos zuerst begutachten durften. Exakt am 25. Dezember, fast so, als wär’s ein Dessert zum Fest der Liebe.
Wenn von Epos die Rede ist, dann beziehe ich mich erst einmal auf die Länge des Werks (den Film konnte ich noch nicht sehen, den Trailer schon): Vier Stunden dauert das Sexsucht-Drama, 100 Stunden Material wurden gedreht. Dessen Handlung scheint rasch erzählt: Joe (dargestellt von Charlotte Gainsbourg) trifft – heftig zusammengeschlagen – auf den alten Junggesellen Seligman. Er kümmert sich um ihre Verletzungen, während er das tut, taucht Joe in ihre Erinnerungen ein. Das wird zur Lebensbeichte einer Nymphomanin, vom Zuseher retrospektiv erlebt. Alles beginnt, als die junge Joe (gespielt von Stacy Martin) im Zug fährt, wo sie mit einer Freundin um Schokolinsen wettet, wer während der Fahrt mit den meisten Männern schläft. Nun folgt eine Aneinanderreihung expliziter Szenen aus dem Genre Sexualität, Begierde, Masochismus, Grenzgänge. Im Mittelpunkt eine Frau, die mit zehn Männern pro Tag vögelt. Die es immer exzessiver treibt, sich treiben lässt. Die fahndet, aber nicht findet. „Ich bin ein böser Mensch“, sagt sie zu Beichtvater Seligman. „Ich bin eine Nymphomanin“, eröffnet sie ihrer Therapiegruppe. Wo sie belehrt wird: „Wir nennen das sexsüchtig.“
Der Film will keine Schaulust bedienen, er ist kein Porno. Also eher keine gute Gelegenheit, zu masturbieren.
Ich vermute, mir wird es – wenn ich ihn dann sehen werde – ähnlich gehen wie beim Film „Shame“ mit Michael Fassbender. In dem die Leere und das verzweifelte Bis-zur-Spitze-Treiben eines Sexsüchtigen dermaßen intensiv beschrieben wurde, dass es mir bei bestimmten Szenen Tränen der Trauer in die Augen getrieben hat.
„Shame“ und wohl auch „Nymphomaniac“ zeigen das Ausufern von Liebeslust zur destruktiven Kraft, die das Leben eines Menschen dominiert. Und als solche nach immer eindringlicher werdenden Reizen schreit – egal, was damit kaputt geht. Sexsucht mag ein abstrakter, vielleicht lächerlicher, mitunter verführerischer Begriff sein, der oft für die falschen Bilder missbraucht wird. Aber sie steht symbolisch für jede Form von „Genug ist nicht genug“. Für die Leere von Menschen, die den Kontakt zu sich verloren haben. Die nicht mehr wissen und spüren, was sie spüren, was sie brauchen, wonach sie sich wirklich sehnen. Die sich verloren haben, im Hunger nach einer Ersatzreligion, um Liebe und Anerkennung zu ernten. Doch stattdessen wird die Leere noch größer, die Gier nach Liebe noch stärker. Man verliert sich. Sex wird zum Schmerzmittel, zum Morphium der psychisch Verwundeten. „Der Film ist eine Reise durch das Leben einer Frau, die übermäßig kritisch mit sich selbst ist.“ Die Zuseher sehen Akte der Hoffnungslosigkeit, die als Schrei nach Liebe und Anerkennung verstanden werden müssen. Der allerdings – ungehört – im Dunkel der Lieblosigkeit verhallt. Und so fragt die junge Joe in eingangs erwähnter „Wer-verführt-mehr-Männer-im-Zug“-Wett-Szene ihre Freundin M: „Was, wenn es eklig ist?“ Deren Antwort: „Dann denkst du an die Tüte voller Schokolinsen.“
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