Sofia: Eine Hauptstadt, die alles andere als glattbegügelt ist

Sofia: Eine Hauptstadt, die alles andere als glattbegügelt ist
Bröckelnde Fassaden neben glänzenden Glastürmen: Genau das zieht Touristen an. Einheimische nutzen das Potenzial eines Ortes, der sich gerade selbst neu erfindet.

Stoyko Angelov beschwert sich: „Schau nach draußen, der Gehsteig ist kaputt. Versteh mich nicht falsch, ich bin in Sofia geboren, ich lebe gern hier und es ist heute besser als vor zehn Jahren. Aber es muss noch viel passieren.“ Der 39-Jährige war Schauspieler und hat mehrere Jahre lang auf Theaterbühnen gestanden. „Das ist ein Beruf mit schwierigen Bedingungen. Eines Morgens bin ich einfach nicht mehr hingegangen. Und heute stehe ich in meinem eigenen Geschäft. Es ist mein Lebenstraum.“ Angelov betreibt einen kleinen Porzellanladen mit handgefertigten Häferln und Bechern. Sein Shop liegt in einer Seitenstraße im Zentrum von Sofia, in der sich auch ein Hostel, ein Co-working-Space und ein paar Cafés und Restaurants angesiedelt haben.

Als das kommunistische System 1989 wie ein Kartenhaus zusammenfiel, war Angelov ein Schulbub. Die Fabriken waren marod, der Staat pleite und niemand wusste, wie Marktwirtschaft funktioniert. Heute ist Turbokapitalismus angesagt. Das kommerzielle Herz Sofias pocht in der Fußgängerzone Boulevard Vitosha: Mainstream-Shops, schicke 24-Stunden-Pizzaläden, Sushi-Lokale und trendige Bars reihen sich aneinander. Auch der Rest des Stadtzentrums ist geprägt von Einkaufsstraßen, modernen Büros, angesagten Restaurants und Parks, die bis spät in die Nacht bevölkert werden. Von überall her tönt Chalga-Musik, der bulgarische Pop, der sich nach dem Systemfall entwickelt hat. Der Gegensatz: Museen in historischen Gebäuden, orthodoxe Kuppelkirchen, abbröckelnde Fassaden, glattgetretene Pflastersteine und nostalgische Straßenbahnen. Das spezielle Sofia-Flair, der Mix aus Alt und Neu, aus Verfall und Neubeginn, wirkt auf Besucher erfrischend. Während sich Shopbesitzer wie Angelov über marode Häuser und Gehsteige ärgern, freuen sich die ausländischen Gäste über ein Reiseziel abseits von Einheitsbrei und Overtourism.

Sofia: Eine Hauptstadt, die alles andere als glattbegügelt ist

Nicht nur Touristen, sondern auch Auswanderer zieht es heute nach Sofia. „Daheim in Portugal würde ich weniger Geld verdienen und hätte höhere Ausgaben“, erzählt ein 26-jähriger Portugiese, der einen Job als Designer für Computerspiele gefunden hat. Aktuell geht es mit der bulgarischen Wirtschaft bergauf: Sie wuchs im Jahr 2018 um vier Prozent und die Flat-Tax bringt Investoren in die Stadt. Der IT-Sektor boomt, internationale Konzerne profitieren von niedrigen Kosten und gut ausgebildeten Mitarbeitern. Dieser Hype hängt auch mit dem ehemaligen kommunistischen Bildungssystem zusammen. „Die Machthaber wollten damals nicht, dass die Menschen Geisteswissenschaften studieren, um sich keine Kritiker heranzuzüchten. Deshalb wurden sie in Technik und Mathematik ausgebildet und entwickelten Computer für die Sowjetunion“, erklärt Deyan Tsuyatkou.

Kommunismustour

Er führt Touristen durch das Sofia von damals, zum Beispiel zur ehemaligen, übermächtig in den Himmel ragenden Zentrale der Kommunistischen Partei oder zum Nationalen Kulturpalast (NDK), Konzerthalle und Treffpunkt.

Während manche Einheimische über solche „Kommunismustouren“ verärgert den Kopf schütteln, können sie für Besucher ein recht aufschlussreicher Ausflug in die bulgarische Geschichte sein. Es wird klarer, wie die Schwierigkeiten von heute in der Vergangenheit wurzeln. Sofia steckt in der Übergangszeit zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Bulgarien ist das ärmste Land innerhalb der EU, der Durchschnittslohn beträgt je nach Quelle zwischen 400 und 600 Euro. Bei Gesprächen mit Bewohnern kommt das Thema meistens schnell auf die grassierende Korruption und die Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Medien, die sich nach dem Systembruch etablierte. Die Alten leiden unter niedrigen Pensionen, viele der Jungen wandern ins Ausland ab. Während in Sofia gestylte Menschen in modernen Bars Cocktails schlürfen, hocken faltige Frauen am Straßenrand und verkaufen Blumensträuße.

Sofia: Eine Hauptstadt, die alles andere als glattbegügelt ist

Auch Kunst und Kultur mussten sich nach der Wende wieder neu erfinden und etablieren. Vor allem der Literaturbetrieb litt, das Verlagswesen brach zusammen, viele Buchhandlungen in Sofia mussten schließen. Das Geschäft verlagerte sich vorübergehend auf die Straße. „Der Büchermarkt am Slaveykov-Platz war nach der Wende der einzige Ort, um mit Büchern zu handeln. Die Menschen waren hungrig nach Literatur“, erzählt Monika Chalakova. Die 24-Jährige studiert Verlagswesen an der Universität Sofia. Aus dem Gebraucht-Büchermarkt heraus, der aktuell wegen Umbauarbeiten umgesiedelt wurde, sind mittlerweile auch wieder feste Buchläden entstanden. Aber Literatur ist im Vergleich zum Einkommen vergleichsweise teuer. Und Büchereien haben nur beschränkte Mittel, um neue Werke zuzukaufen.

Vor rund vier Jahren wurde deshalb ein ganz besonderes Projekt ins Leben gerufen: Die „Vereinigung der Stadt-Büchereien“ überredete die Stadtregierung dazu, einen heruntergekommenen Pavillon im Stadtpark zu renovieren. Heute erstrahlt das kleine Glasgebäude im neuen Glanz. „Der Leseraum“ (Chitalnyata), in dem Monika Chalakova mitarbeitet, ist Bücherei und alternative Touristeninfo zugleich. Das Konzept dahinter: Jeder, der zumindest ein Buch spendet, darf auch alle anderen – mehr als 6.000 Bücher – kostenlos ausborgen. Mittlerweile ist die Spendenfreudigkeit so groß, dass mit den Büchern auch andere Bibliotheken in Sofia und ganz Bulgarien mitversorgt werden. Touristen können seit Kurzem außerdem Literaturtouren buchen, die von einem lokalen Schriftsteller begleitet werden.

In Sofia, wie es sich 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus zeigt, erfüllen sich Menschen wie Stoyko Angelov ihren Traum von der Selbstständigkeit. Projekte wie „Der Leseraum“ zeigen, wie sich die Stadt von innen heraus neu orientiert. Obwohl für Angelov manches noch zu langsam vorangeht: Er liebt Sofia, sagt er, und blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Auch für Monika Chalakova ist klar: „Die Dinge werden besser. Aber es gibt noch immer viel zu tun.“ maria kapeller

Schlafen
– Grand Hotel Sofia: direkt im Stadtpark; außen moderne Glasfassade, innen gediegen,  Grand Café und Spa. grandhotelsofia.bg
– Les Fleurs Hotel: Kleines Boutique-Hotel im floralen Stil direkt an der Flaniermeile Boulevard Vitosha. lesfleurshotel.com

Essen
– Moma: Bulgarische Speisen und Weine auf hohem Niveau und in modernem Ambiente. Im Sommer Gastgartenbetrieb, Reservierung empfohlen. moma-restaurant.com/en
– The little things: Szenetreff, europäische Küche und Gastgarten, oft recht voll. Tsar Shishman Straße 37

Sehen
– Historisches Museum der Stadt Sofia: im ehemaligen Mineralienbad; zeigt die Geschichte Sofias ab dem 6. Jh vor Christus. sofiahistorymuseum.bg/en
– Städtische Kunstgalerie: Im überschaubaren, atmosphärischen Gebäude im Stadtpark wird in wechselnden Ausstellungen bulgarische zeitgenössische Kunst gezeigt. sghg.bg/en

Kommunismus
Mit der Vergangenheit wird heute Geschäft gemacht. Bei der  Communist Tour taucht man in die Geschichte ein und erfährt viel über die Zusammenhänge, die bis heute nachwirken (freeesofiatour.com). „The red flat“ veranschaulicht, wie eine typische Familie im Kommunismus wohnte (redflatsofia.com) und das Socialist Art Museum zeigt sozialistische Skulpturen (nationalgallery.bg)

Auskunft
visitsofia.bg; chitalnyata.bg

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