Mein Gefühl hat mich nie im Stich gelassen

Eine Frau sitzt auf einem Tisch vor einer bewachsenen Wand.
Sie ist eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen der Welt und hat alle 14 Achttausender in der Tasche. Nun hat für Gerlinde Kaltenbrunner, 44, ein neuer Lebensabschnitt begonnen. In der freizeit erzählt die Oberösterreicherin, was sie vom Massentourismus am Everest hält, warum sie im Gegensatz zu vielen anderen Bergsteigern noch lebt und was es mit ihrer neuen Frisur auf sich hat.

Frau Kaltenbrunner, bei jeder Frau, die ihre Frisur radikal verändert, muss man nachhaken. Was ist passiert?

Der Hauptgrund war der heiße Sommer heuer. Alles, was über 26 Grad geht, setzt mir zu, auch wegen der langen Haare beim Sport. Ich hatte den Wunsch nach einer neuen Frisur schon länger. Als ich dann eines Morgens aufgewacht bin, dachte ich mir: „So, jetzt weg damit!“

Wie waren die Reaktionen?

Meine Geschwister haben ganz schön nach Luft geschnappt, nur mein Vater hat richtig gut reagiert. Als ich vor ihm gestanden bin, hat er gesagt: „So will ich sie auch.“ Es hat mich so gefreut, dass er sich überhaupt nicht aufgeregt hat. Im Gegenteil! Er hat noch gesagt: „Jetzt sieht man dein Gesicht ordentlich.“

Es steht Ihnen. Trotzdem muss ich als Frau sagen: Sehr mutig!

Für mich persönlich war spannend, dass man nichts mehr an der Frisur festmacht. Ich kann meine Haare ja nicht einmal mehr frisieren. Man ist, wie man ist, ganz pur. Im Moment würde ich als buddhistische Nonne durchgehen.

Vor Ihrer Zeit als Bergsteigerin waren Sie nicht Nonne, sondern Krankenschwester. Eine wichtige Grundlage für Ihre spätere Tätigkeit?

Der Beruf war mir in vielen Situationen hilfreich. Nicht nur am Berg, um mir selbst und anderen zu helfen, sondern generell. Damals habe ich gelernt, in mich hineinzuhören, meinen Körper zu spüren und mit dem Tod umzugehen.

Hatten Sie je Angst vor dem Tod?

Ich war schon in sehr jungen Jahren beruflich und familiär mit dem Tod konfrontiert – auch mit dem eigenen. Ich glaube an den Kreislauf der ewigen Wiederkehr. So drücke ich das jedenfalls aus. Ich bin überzeugt, dass es auf einer anderen Ebene und in einer anderen Dimension weitergeht. So macht das Leben für mich Sinn. Ich habe auch nie bereut, was ich gemacht habe und hatte auch nie Angst davor, zu sterben.

Sind Sie wirklich so unerschrocken?

Ich würde es nicht unerschrocken nennen. Ich bin einfach ein Mensch, der ein sehr starkes Urvertrauen hat. Das hatte ich schon als Kind. Ich vertraue darauf, dass alles, was geschieht, seine Richtigkeit hat. Auch, wenn sich der Sinn oft erst Jahre später zeigt. Das heißt aber nicht, dass ich blindlings handle. Ich bin immer bestrebt, bewusst unterwegs zu sein. Was dann geschieht, ist eben mein Weg.

Sie wären 2007 am Dhaulagiri beinahe bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Haben Sie sich nicht gefragt, warum Sie im Gegensatz zu zwei anderen Bergsteigern überlebt haben?

Die Frage war immer da. Es gibt keine Erklärung, außer, dass meine Zeit noch nicht um war. Gleich nach dem Unglück habe ich eine Trekking-Tour gemacht, bei der ich einige Tage ganz mit mir war und geistig alles durchgegangen bin. Für mich hat sich die Frage, das Bergsteigen bleiben zu lassen, in keinem Moment gestellt. Im Gegenteil, weil es mir am Berg gleich wieder viel besser gegangen ist. Draußen in der Natur habe ich wieder Weitblick bekommen. Es ist mir dann gelungen, das Geschehen in mein Leben zu integrieren. Rückgängig machen konnte ich es ja nicht. Ich habe einfach gelernt, das nächste Mal noch vorsichtiger zu sein.

Warum glauben Sie, dass Sie im Gegensatz zu vielen anderen Bergsteigern am Leben geblieben sind?

Es könnte meine Intuition sein. Ich höre oft ganz stark in mich hinein, lasse es still werden und setze mich mit dem, was vor mir ist, auseinander. Ich verbinde mich mit der Situation und spüre dann klar, ob ich weitersteigen kann oder nicht. Ich habe auch schon beim schönsten Wetter das Gefühl gehabt: „ Gerlinde, jetzt drehst du um.“ Es war schwierig, zu erklären, warum mein Bauchgefühl nicht passt. Aber es hat mich in all den Jahren nicht im Stich gelassen.

Glauben Sie, dass das eine besondere Gabe ist?

Ich glaube, das hat jeder. Vielleicht lassen viele Menschen die Stille einfach nicht mehr einkehren. Wenn es ganz still in einem wird, kriegt man immer ein Gefühl. Das lässt sich schwer beschreiben. Ich habe dann zumindest einen Impuls, in welche Richtung ich gehen muss.

Wie war das am K2? Es hat viele Versuche gebraucht, ehe Sie ihn bewältigen konnten. Kam Ihnen nie der Gedanke, auf ihn zu verzichten, um das Schicksal nicht zu sehr herauszufordern?

Insgesamt habe ich für den K2 vier Expeditionen mit sieben Versuchen gebraucht – zwei pro Expedition. Nach der dritten Expedition 2010 dachte ich mir schon, dass mich der Berg nicht will. Damals hatte ich auch das einzige Mal das Gefühl, gescheitert zu sein. Als ich davor aus unterschiedlichen Gründen immer wieder kurz vor dem Gipfel umkehren musste, war das trotzdem ein Erfolg für mich. Meine oberste Priorität war immer: Hauptsache g’sund und gut herunten.

Woher kam dann 2010 das Gefühl, gescheitert zu sein?

Mein schwedischer Freund und Bergkamerad Frederik ist damals neben mir abgestürzt und ich musste alleine absteigen. Wenn ein Freund nicht mehr vom Berg runterkommt, ist das das Schlimmste und Traurigste, was passieren kann. Das hat mich wirklich sehr lange beschäftigt.

Trotzdem sind Sie zurückgekehrt. Der K2 war auch der letzte der 14 Achttausender, der Ihnen gefehlt hat.

Es ging mir schon lange nicht mehr darum, die 14 vollzumachen, auch wenn mir das niemand geglaubt hat. Ich habe einfach gespürt, dass ich noch einmal zurückkommen muss. Ich bin dann auf der Nordseite rauf und nicht dort, wo ich schon so viele Versuche hinter mir hatte.

Was sagen Sie Menschen, die kritisieren, wenn sich jemand immer wieder in Extremsituationen begibt?

Hundertprozentige Gewissheit hat man nie, egal was man tut. Wenn Sie morgens aus dem Haus gehen, wissen Sie auch nicht, ob Sie abends heil nachhause kommen. Man hofft es, wie jeder, der sich in ein Auto setzt. Ein banales Beispiel, aber so ist es. Ich habe, wie die meisten meiner Kollegen, immer versucht, das Risiko zu minimieren. Mehr kann man nicht tun.

Zwei Frauen sitzen lächelnd auf einer Treppe.
Die österreichische Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner am 15.09.2015 in Wien. Sie ist dritte Frau, die alle 14 Achttausender bestiegen hat.

Wie sehen Sie als Profi den Massentourismus auf dem Mount Everest?

Es ist klar, dass auf dem höchsten Berg der Welt viel los ist. Keiner darf sagen: Wir Profibergsteiger dürfen rauf und die Hobbybergsteiger nicht. Es ist nachvollziehbar, dass jeder in diese wunderbare Bergwelt möchte. Aber ich habe Leute gesehen, die noch nie in ihrem Leben ein Steigeisen anhatten. Da merkt man, dass man sich mit Geld einiges kaufen kann. Dementsprechend viel passiert auch. Das kann ich nicht gutheißen.

Was kann man dagegen tun?

Es müsste eine Regelung geben, dass nicht so viele Menschen gleichzeitig auf den Berg dürfen. Aber am besten wäre es, jeder würde sich selbst hinterfragen, ob er mit seiner Erfahrung in der Lage ist, diesen Berg zu besteigen. Lieber ein kleineres Ziel aus eigener Kraft erreichen, als den Everest mit Sherpas, Flaschensauerstoff und, und, und...

Lässt sich beschreiben, wie die Luftsituation auf 8.848 Metern ist?

Auf dem Gipfel des Everest war es schon sehr speziell. Da war ich ziemlich am Limit. Die Atmung war sehr schnell und das Herz hat ordentlich geschlagen. Da habe mich mir schon die Frage gestellt, wie hoch es noch ginge. Ich glaube, recht viel höher wäre für den menschlichen Körper einfach unmöglich. Man muss sich vorstellen, dass die Luft, die man einatmet, extrem kalt ist. Das ist für den Organismus sehr anstrengend.

Wie lange waren Sie am Gipfel?

Eine halbe Stunde, gemeinsam mit vier italienischen Kollegen, die auch ohne Flaschensauerstoff aufgestiegen sind. Wir waren die einzigen am Gipfel, weil das Wette nicht so schön war. Im Abstieg ist es dann erst richtig schön geworden. Es hat aufgerissen, weil der Wind so stark war. Der Ausblick war grandios, aber es war so eisig kalt. Hätten wir diese Verhältnisse beim Aufstieg gehabt, wäre sich der Gipfel ohne Flaschensauerstoff nicht ausgegangen. Man hätte es von der Kälte her nicht ausgehalten.
Haben Sie sich eigentlich den Film „Everest“ mit Jake Gyllenhaal gesehen?
Noch nicht. Ich habe da meine eigene Einstellung dazu und lese als Vorbereitung auf Expeditionen auch nur selten Bergbücher. Ich bin lieber unvoreingenommen. Die Erfahrungen anderer könnten mich unter Umständen beeinflussen.

Es ist auch modern geworden, auf den Kilimandscharo zu steigen – mit 5.895 Metern das höchste Bergmassiv Afrikas. Ist so ein Abenteuer für jeden Hobbysportler geeignet?

An und für sich ist es der Kilimandscharo eine Wanderung, aber die Höhe ist trotzdem da. Da glauben auch fitte Leute, dass sie das schnell erledigen können und lassen sich zu wenig Zeit beim Akklimatisieren. Das ist der Hauptknackpunkt. Die Folge können Lungenödeme und in weiterer Folge Hirnödeme sein. Das Wichtigste ist, sich gerade am Beginn, langsam an den geringen Sauerstoffpartialdruck zu gewöhnen. Auf 5.000 Metern ist der Sauerstoffpartialdruck halb so hoch wie in Wien, auf 2.500 Metern sind es ungefähr 75 Prozent. Das ist auch sehr viel weniger und der Körper hat einiges zu tun, um damit zurechtzukommen. Es ist auch ganz wichtig, viel zu trinken.

Der Winter soll heuer sehr streng werden. Haben Sie einen guten Kälte-Tipp?

Man braucht nicht ins Karakorum oder in den Himalaja zu fahren, um einen richtig kalten Wintertag zu erleben. Den gibt es auch bei uns. Skifahrer und Tourengeher stecken immer in engen Schuhen. Deshalb müssen sie ausreichend trinken, damit die Durchblutung funktioniert. Wichtig ist auch ein trockener Innenschuh. Und am wärmsten sind immer noch Wollsocken.

Gerlinde Kaltenbrunner, 44, wurde 1970 in Kirchdorf in Oberösterreich geboren. Sie hat fünf Geschwister und klettert auf Felsen, seit sie 13 Jahre alt ist. Kaltenbrunner arbeitete viele Jahre als Krankenschwester. Dann machte sie ihre Passion, das Bergsteigen, zum Beruf. Am 23. August 2011 erreichte sie den Gipfel des K2 und war damit die erste Frau, der es gelang, ohne zusätzlich mitge- führten Sauerstoff alle 14 Achttausender zu besteigen. 2015 gab sie bekannt, mit den Achttausendern abgeschlossen zu haben und sich niedrigeren Bergen widmen zu wollen. „Ich habe oft Glück gehabt, jetzt reicht es.“ 2015 ließ sich Kaltenbrunner, die keine Kinder hat, nach sieben Jahren Ehe von ihrem Mann, Bergsteiger Ralf Dujmovits, 53, scheiden. Ihr neuer Partner hat nichts mit dem Bergsport zu tun. Derzeit ist sie viel mit ihrem Kleinbus unterwegs, um Vorträge zu halten.

www.gerlinde-kaltenbruner.at

Das Gespräch wurde dankenswerterweise von der Firma Schöffel ermöglicht.

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