Gesucht: Die Windstille der Seele
Hilfe! Jeden Tag werden rund 281 Milliarden E-Mails versendet und empfangen, berechnete vor Kurzem die US-amerikanische Marketingagentur The Radicati Group aus Palo Alto im Silicon Valley. Im Schnitt sind das 35 E-Mails für jede Person auf der Welt. Mit anderen Worten: 35-mal am Tag wird vom Nordpol bis zum Südpol, vom Okzident bis zum Orient jeder einzelne persönliche elektronische Briefkasten nachgefüllt. Man wird informiert, erfreut, geärgert, gestört, befragt, belehrt. Daneben brummen Milliarden WhatsApp-Eingänge und bei Instagram und Twitter will man ja auch mitmachen. Gar nicht zu reden von den Verlockungen von Facebook & Co.
Drückt man nicht ab und zu den Off-Knopf, bleibt kaum Zeit durchzuatmen. Denn dabei zu sein, gilt als Notwendigkeit, als Tugend. Immer schon.
Stichwort Rastlosigkeit. „Den Wogen gleich schwanken wir hin und her und greifen bald nach diesem, bald wieder nach jenem; was wir gesucht, geben wir auf, und das Aufgegebene suchen wir wieder; es ist ein beständiger Wechsel von Begierde und Reue“, beschrieb diesen Zustand schon einer, der möglicherweise einen vollen Terminkalender, aber weder Handy, noch Tablet oder Laptop kannte. Der römische Philosoph Seneca in seinem Text „von der Muße.“ Mehr als zweitausend Jahre ist das her.
Seneca und Selfies
Mit ein wenig Fantasie lässt sich sogar behaupten, dass Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere (er lebte vom Jahr 1 bis 65 n. Chr.), bereits den Hype um Twitter und Selfies vorausgeahnt hat. „Wir hängen ganz ab von dem Urteil anderer“, fuhr er fort, „und das Beste in unseren Augen ist das, was zahlreiche Bewerber und Lobredner hat, nicht das, was lobwürdig und erstrebenswert ist.“
Nicht auszuschließen, dass der selbstverliebte Kardashian-Clan sich derart bei einem seiner Sommerurlaube in Italien oder in Griechenland im Spiegel sah.
Das Urteil anderer macht Stress und hält auf Trab. Ziemlich sogar. Wer kann sich heute noch ohne Schuldgefühle dem hingeben, was Friedrich Nietzsche als „Windstille der Seele“ bezeichnet hat? Egal, ob man es nun Langeweile nennt oder Muße. „Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse“, so Nietzsche anno 1882 in Die fröhliche Wissenschaft: „Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, — man lebt, wie Einer, der fortwährend Etwas „versäumen könnte. Lieber irgend Etwas tun, als Nichts.“
Lieber etwas tun als nichts. Aber was? In Zeiten von Digital Detox, von zwischendurch immer öfter selbst auferlegtem Verzicht auf die digitale Welt, ist das richtige Maß zwischen Aktionismus und dolce far niente, süßem Nichtstun, gefragt.
Konrad Paul Liessmann, Professor für „Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik“ an der Universität Wien sowie Philosoph, Essayist und Kulturpublizist, meint, dass die Muße am
Anfang jeder Beschäftigung steht. Denn: „Muße pflegen heißt, sich für Dinge g e n a u zu interessieren. Anfang des Jahres veröffentlichte Liessmann einen Essay mit dem Titel „Muße. Mein rebellisches Vorhaben für das neue Jahr“. Aber sein Plan mit dem vorzeitigen Unruhestand verzögerte sich. Die Uni Wien verpflichtete den Philosophen noch für zwei weitere Jahre und verlängerte seine Professur.
Kein Problem
Kein Problem. Denn Muße regt an, macht Freude, sie ist ja das Gegenteil von faulem Nichtstun. Insofern auch sehr produktiv. Kann man das so sagen?
Konrad Paul Liessmann: „Ja, ich würde das so sehen. Natürlich gibt es – auch bei mir – eine Form der Produktivität, die sich einem entsprechenden Druck, knappen Fristen, ehrgeizigen Zielen verdankt; aber in der Muße kann vielleicht der Grundstein für eine andere Form der Produktivität gelegt werden. Ideen kann man ja nicht auf Knopfdruck produzieren, sie ergeben sich vielleicht aber am Rand einer eher absichtslosen Beschäftigung mit den schönen Dingen des Lebens.“
Neudeutsch lässt sich Muße durchaus als Chillen übersetzen. Wobei mit Letzterem nicht unbedingt eine Bildung des Charakters einhergehen muss. Muße benötigt hingegen die Stille und nicht Eventkultur und Partyzone. Die hier gemeinte Muße ist beinahe gleichzusetzen mit Meditation, hat jedenfalls etwas von kreativer Selbstverwirklichung.
Vor ein paar Jahren schaffte es Burgschauspieler Klaus Maria Brandauer mit seinem Hohelied auf den gelegentlichen Müßiggang sogar in die Niederungen der Society-Berichterstattung. Die Gesellschafts-Postille Gala zitierte ihn mit dem Gedanken, dass Müßiggang keine Sünde sei, sondern die Voraussetzung für kreative Ideen.
Unbedingt, meint dazu auch Liessmann. Muße und Muse gehörten nämlich zusammen. „Denn die Musen – also das Schöne, die Kunst, das Theater, die Musik, die Literatur, aber auch die Wissenschaft – verlangen eine Form der Aufmerksamkeit, der Konzentration, ja: der Hingabe, die nicht ausschließlich von Interessen, Nutzenerwartungen und ökonomischen oder karrieretechnischen Kalkülen geprägt sein darf.“ Seine Schlussfolgerung: „Ohne Muße lassen wir die Musen verhungern.“
Im Vorjahr klang das sogar noch ein bisschen radikaler. Da plädierte Liessmann beim Philosophicum Lech frech für einen „Mut zur Faulheit.“
Zeit für eine kurze Geschichtslektion. Von der Antike bis in die frühe Neuzeit, führt Liessmann aus, war die Muße das Vorrecht einiger Weniger. Als Beispiele nennt er in seinem Essay: Die würdevolle, für kluges Handeln essentielle Muße der Denker und Staatsmänner der griechischen Antike; die vita contemplativa der christlichen Mönche; der ostentative Müßiggang der Adeligen – jahrtausendelang war Muße ein Privileg, ja sogar ein Statussymbol.
Heute wird einem die Muße schon alleine durch die Wahl des Wohnorts ausgetrieben. Wer in einer Millionenstadt wie Tokio oder New York lebt, geht oder Heute wird einem die Muße schon alleine durch die Wahl des Wohnorts ausgetrieben. Wer in einer Millionenstadt wie Tokio oder New York lebt, geht oder redet im Schnitt doppelt so schnell wie ein Bauer in Griechenland. Das liegt nicht an unterschiedlichen Mentalitäten. Das hat einzig damit zu tun, dass die Spielregeln der industrialisierten Welt uns zur Eile zwingen. Mit anderen Worten: Wir alle bewegen uns auf einem Fließband namens Alltag. Und dessen Geschwindigkeit nimmt von Jahr zu Jahr zu.
Was tun? Aussteigen ist eine Alternative. Aber wer will in seinem Leben wirklich einen Gang zurückschalten, oder gleich mehrere? Das wäre vergleichbar mit dem Um- oder Abstieg von einem iPhone 9 auf ein iPhone 7. Oder von einem 55-Zoll-Fernseher auf einen 32-Zöller. Oder von einer Wohnung mit Dachterrasse ins Souterrain.
Leiser treten
Also leiser treten, etwas zumindest. Wenn man es richtig anstellt, ist das gar nicht so schwer. Da Muße auch eng verbunden ist mit einer Tätigkeit namens Arbeit, kann man aus seinem Leben schon mehr Muße herausholen, wenn man einmal einen anderen Blick nicht nur auf seine Arbeit wirft, sondern auch auf sich selbst. Georg Vobruba, österreichischer Soziologe und emeritierter Professor an der Universität Leipzig, hat das so formuliert: „Wir können anfangen, uns mit uns selbst zu identifizieren und nicht nur dem, was wir tun müssen.“
Ein Schauspieler hat sicher eine andere Sicht darauf als ein Systemprogrammierer. Aber auch Klaus Maria Brandauer weiß eine Dosis dolce far niente zu schätzen. Vor einigen Jahren schwor er in einem Interview auf Müßiggang als Voraussetzung für kreative Ideen. Mehr noch, er forderte sogar: „Es sollte ein Menschenrecht auf Langeweile geben.“
Das muss nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer Absage an die Leistungsgesellschaft sein. Auch Philosoph Liessmann geht „prinzipiell nicht davon aus, dass die Muße die Arbeit generell ablösen sollte“. Und fügt hinzu: „Arbeit und Leistung als ziel- und zweckorientierte Tätigkeiten können auch sehr befriedigend sein und sind notwendig für das Leben des Menschen und der Gesellschaft.“
Was also tun? Liessmann: „Die Muße, die wir uns gönnen sollten, verweist darauf, dass es daneben und darüber hinaus noch andere Aspekte und Seiten des menschlichen Lebens gibt. Seiten, die wir vielleicht in den letzten 200 Jahren sträflich vernachlässigt haben.“
Welche Seiten das sind, wissen wir alle. Aber wir haben sie sprichwörtlich übersehen. Und so klingt die Lösung dieses Rätsels erfrischend einfach: „Den kleinen Dingen des Lebens wieder mehr Aufmerksamkeit schenken."
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