Das geschenkte Leben
Wer hat nicht schon einmal eine große Chance verpasst? Die große Liebe, die man damals nicht zu schätzen wusste, den tollen Job, den man ausschlug, die Superwohnung, die man sich zu dem Zeitpunkt, als sie zu haben gewesen wäre, nicht leisten konnte. Chancen, die man später womöglich für die Chance seines Lebens hielt und denen man nachtrauerte.
Zukunftsforscher Andreas Reiter hat für die ein Szenario entworfen, wie unser Leben in 25 Jahren aussehen wird. Seine gute Nachricht: Niemand muss verpassten Chancen nachtrauern, denn jeder bekommt eine zweite. Ein geschenktes Leben sozusagen.
Reiter: „Wir werden mehrere Lebenszyklen durchleben. Wo heute die Biografie begrenzt ist, wird sich künftig noch eine Tür aufmachen. Mit 60 ist die Karriere nicht zu Ende, sondern es kann beruflich und privat einen Neuanfang geben.“ Genetiker Markus Hengstschläger hat das Schlagwort „das neue Alt“ geprägt: Die Menschen werden älter, aber auch fitter.
Der Grund dafür ist die stetig steigende Lebenserwartung: Ein Baby, das heute zur Welt kommt, wird höchstwahrscheinlich 100 Jahre alt. Nun geht es darum, gesund alt zu werden. Zukunftsforscher Reiter: „Grau ist das neue Schwarz. Das erfordert aber viel Selbstdisziplin und Vorsorge.“ Schließlich wollen wir das Alter ja frisch und munter erleben. 50-jährige Frauen werden dann nicht mehr als alt gelten, sondern als Rolemodels attraktiv sein.
Älter werden allein reicht freilich nicht. „Es kommen extreme gesellschaftliche Veränderungen auf uns zu. Wir müssen in vielen Bereichen umdenken“, sagt Zukunftsforscher Reiter. „Ein 70-Jähriger, der arbeitet, wird kein Tabu mehr sein.“ Statt dem Golden Handshake für Menschen Mitte 50 wird es die Silver workers geben. Auch die Unternehmen sollten das bis 2040 verstanden haben. Reiter: „In einer wissensbasierten Gesellschaft werden ältere, qualifizierte Mitarbeiter dringend gebraucht."
Die strenge Trennung zwischen Arbeit und Freizeit wird verschwimmen. „Uns erwartet eine 24-Stunden-Ökonomie mit permanenter Erreichbarkeit“, sagt Reiter. Die physische Anwesenheit verliert jedoch an Bedeutung.
Dafür wird die Freizeit flexibler.
Reiter: „Die starre Fünf-Tage-Woche und die fixen drei Wochen Sommerurlaub wird es nicht mehr geben.“ Statt dessen fährt man nach einem erfolgreich abgeschlossenen Projekt drei Tage irgendwohin, um auszuspannen. Um danach in seine Wohnung – meist im städtischen Ballungsraum – zurückzukehren, wo man mit der Familie lebt. Wobei Familie nicht nur aus Vater-Mutter-Kind bestehen kann. Auch neue Formen von Lebensgemeinschaften werden sich bilden: Cohousing, wo sich mehrere Bewohner die Gemeinschaftseinrichtungen teilen oder Alters-WGs, die zukünftige Alternative zum Altersheim. Im Alter gesund zu bleiben, dabei hilft uns maßgeschneiderte Medizin. Seit das menschliche Erbgut entschlüsselt wurde und das „Buch des Lebens“ offen daliegt, stehen der Medizin neue Wege offen. Genetiker Hengstschläger: „Die Schere zwischen Diagnose und Therapie wird sich schließen.“ Mit Hilfe der Stammzellen wird nicht mehr Reparaturmedizin betrieben, der menschliche Körper wird dabei unterstützt, sich selbst zu regenerieren und zu erneuern. Von neuen Herzmuskelzellen bis Therapien bei Querschnittlähmung, Leberschäden oder Parkinson. Diabetiker brauchen dann nicht mehr Insulin zu spritzen, ihnen werden aus Stammzellen hergestellte Zellen eingepflanzt, die Insulin produzieren.
Hengstschläger rechnet damit, dass in 25 Jahren auch die Nanotechnologie große Fortschritte gemacht haben wird. Winzige Maschinen, kleiner als Mikrochips, werden in den menschlichen Körper eingepflanzt, kommunizieren von Mensch zu Mensch, messen vom Blutzucker bis zu den Leberwerten und sagen ihrem Träger, welche Maßnahmen er setzen soll.
Für die Frauen hat die steigende Lebenserwartung eine ganz dramatische Auswirkung.
Der Arzt und Ethiker Johannes Huber ist überzeugt: „Frauen müssen sich nicht mehr damit stressen, bis 40 Karriere und Schwangerschaft auf die Reihe zu kriegen.“ Weil bis 2030, so schätzt er, jede 20-Jährige Eizellen einfrieren lassen und warten kann, bis „Mr. Right“ die Bühne ihres Lebens betritt. Ist das Wunschkind einmal unterwegs, kann die Mutter schon in der Schwangerschaft darauf Einfluss nehmen, wie gut es der neue Mensch einmal haben wird. Das Genom des Babys ist zwar fertig, doch wie es verpackt und gelesen wird, hängt auch von der werdenden Mutter ab. Hat sie Stress? Ernährt sie sich gesund? Das Kind wird es zu spüren bekommen. Der Begriff der Eltern-Verantwortung bekommt eine neue Dimension.
Und die Chancengleichheit auch.
Einmal blinzeln – und die Videokonferenz mit dem Arbeitsteam beginnt. Zwei Lidschläge und das Heimunterhaltungssystem springt an. Wir sehen einen spannenden Spielfilm – vor dem inneren Auge sozusagen. Die Smartphone-App, der MP3-Player oder der Fernseher sind bald überflüssig. Schon jetzt kommt kein elektronisches Gerät ohne Mikrochip aus. Doch was uns jetzt winzig und leistungsstark vorkommt, ist 2030 monströs und vergleichsweise armselig. Der US-Physiker und Zukunftsforscher Michio Kaku prophezeit: „Das Internet wird überall sein. In Wänden und Möbeln, auf Reklametafeln und selbst in unseren Brillen und Kontaktlinsen.“ Das Bild wird von den Brillengläsern oder der Kontaktlinse direkt auf die Netzhaut projiziert. Oder der Bildschirm könnte direkt auf den Rahmen der Brille montiert werden. Beim Blick durch die Gläser sehen wir etwa das Internet, als schauten wir auf eine Filmleinwand.
In vielen Bereichen des Alltags wird die Nanotechnologie eingesetzt. Winzige Maschinen, eingepflanzt in den Körper, messen unsere Aktivitäten. Und helfen uns im Alltag. So sagt uns das Maschinchen, ob wir knapp davor sind, Kopfweh zu bekommen. So zeitgerecht, dass wir noch etwas dagegen unternehmen können.
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