Im Hyde Park
Ich gehe von Paddington kommend durch den Hyde Park. Zwar brauche ich jedesmal, wenn ich aus dem Heathrow Express ausgestiegen bin, eine gehörige Portion Glück, um nicht von den Autos, die aus der falschen Richtung kommen, über den Haufen gefahren zu werden. Aber schon habe ich mich durch ein paar Gässchen geschlängelt und befinde mich im weitläufigen Park, der die Stadtteile Paddington, Kensington, Belgravia und Mayfair miteinander verbindet.
Auf einer Wiese spielen Volksschulkinder, die Buben in weißen Hemden und Krawatte, die Mädels in rosa Schuluniformen. Im Schatten unter den mächtigen Eichen liegen Menschen. Die meisten tun etwas Merkwürdiges: Sie lesen. Sie lesen Bücher. Ich nicke ihnen dankbar zu und gehe weiter, bis das gekrümmte Wasser in mein Blickfeld kommt, das sozusagen das Herz des Hyde Parks ist, „The Long Water“ und der „
Serpentine Lake“.
Ich möchte mir das Kunstwerk anschauen, das in der Nähe der legendären Serpentine Gallery vom bulgarischen Künstler Christo ins Wasser gearbeitet worden ist: „The London Mastaba“, eine aus 7.506 Ölfässern errichtete, trapezförmige Monumentalskulptur nach dem Vorbild mesopotamischer Grabbauten, die jetzt im Serpentine Wasser treibt.
Radfahrer überholen mich und Jogger, die wegen der Hitze oben ohne laufen. Die Serpentine Gallery taucht auf und ihr durchaus empfehlenswertes Restaurant „The Magazine“, wo ich vielleicht später einen Snack nehmen werde. Dann sehe ich die Mastaba. Fast erschrecke ich, so stark ist die Wirkung, die dieses Kunstwerk auf mich hat. Es ist groß, klar, und seine Farben Rot, Blau und Rosa setzen einen starken Kontrast zum grauen Grün der Parks, der das Wasser umgibt. Aber vor allem hat es eine unwiderstehliche poetische Kraft. Es zieht mich magnetisch an, bis ich am Ufer der Serpentine Lake unmittelbar vor der am anderen Ufer liegenden Mastaba stehe.
Ein Glück, dass es hier in der Wiese jede Menge Liegestühle gibt, die man für 1,80 Pfund pro Stunde mieten kann. Ich richte meinen Stuhl gen Mastaba aus, lasse mich hineinfallen und spüre, wie der Staub der Reise und des Spaziergangs von mir abfällt. Ich fühle mich geborgen, gut aufgehoben in der Gegenwart dieses Öltonnenbergs. Das mag befremdlich klingen, wobei jeder, der die emotionale Wirkung der Kunstwerke aus der Werkstatt von Christo und Jeanne-Claude kennt, mir zustimmen wird. So sah der verpackte Reichstag in Berlin auf Bildern vielleicht durchaus spektakulär und spannend aus – in der Realität verströmte er etwas Feierliches, Lyrisches, das ich nie vergessen werde.
So geht es mir auch jetzt. Ganz gegen meine Gewohnheiten – beim Gehen oder im öffentlichen Raum höre ich eigentlich nie Musik – setze ich mir meine Kopfhörer auf und höre ein altes Album von Charlie Haden und Carla Bley, es heißt: „The Ballad of the Fallen“, so etwas wie die jazzigen Wurzeln der Blasmusik, wie sie heute Franui macht. Bass, Klavier, die Bläser, mein Soundtrack zu Christos Mastaba. Es ist ein großes Wort, ich weiß: Aber ja, gerade bin ich glücklich.
christian.seiler@kurier.at
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