Weihnachtsflucht
Ich gehe, weil mir der Winter schon zu lang ist, bevor er noch begonnen hat, die Promenade an der Playa Paraiso entlang. Dieser angebliche Strand befindet sich im Süden von Teneriffa, und bevor ich mich darüber aufrege, wie schauderhaft touristische Standardinfrastruktur hier Gestalt angenommen hat, sage ich, warum ich nicht zu Hause in Wien bin. Ich möchte nämlich den Moment versäumen, wenn die unzähligen Punschstandeln und Weihnachtsmärkte ihren Betrieb aufnehmen, ihren Geruch nach Zimt und billigem Alkohol verströmen und, als wäre das nicht genug, die unvermeidliche Tonspur zuschalten, von der ich bis ans Ende aller Tage genug habe: Weihnachtsklassiker wie „O Tannenbaum“ oder „Kling Glöckchen klingelingeling“ in Kaufhausfassungen, die computergeneriert sein müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein Musiker aus Fleisch und Blut für so etwas hergibt.
Über die Tonspur hier auf der Insel darf ich mich nicht beklagen. An der Playa Paraiso ist das Meer damit beschäftigt, tief ein und tief auszuatmen und mit hohen Wellen die felsige Küste zu bearbeiten. Es ist noch früh. Die Insel La Gomera, die eine Stunde mit der Fähre entfernt ist, liegt zart und grün im frühen Sonnenlicht. Ein frischer Duft nach Meer weht mir entgegen, als ich an der breiten Promenade entlanggehe, wo mir die erstaunlichsten Menschen mit den erstaunlichsten Hunden entgegenkommen, die Hunde maximal von Handtaschengröße. Playa Paraiso gehört zum Ort
Adeje in der Provinz Santa Cruz de Tenerife. Die Insel ist hier nicht lieblich, sondern rau, fast schon derb mit ihren dunklen Felsen, der struppigen Vegetation und dem allgegenwärtigen Lavasand. Das ist ein interessanter Kontrast zum Klima, das mild und angenehm ist und zahlreiche Menschen, die bar anderer Verpflichtungen sind, anlockt, um hier dem Punschgeruch der Wiener Innenstadt zu entkommen.
Hinter mir zwei Türme des Hard Rock Hotels. Neben mir der Komplex eines Fünfsternhotels, das den Charme eines modernen Gemeindebaus hat. Die vielen Sterne halten die Gäste übrigens nicht davon ab, ihre Plätze am Pool schon vor dem Frühstück mit ihren Handtüchern zu reservieren. Ich habe es persönlich beobachtet. In mir steigt dann immer der Wunsch auf, sämtliche Handtücher abzuräumen, während die vorsorglichen Poolbenutzer sich gerade am Büffet ihr Frühstück in sechs Gängen holen, und die gekaperten Liegen wieder für die Allgemeinheit verfügbar zu machen. Aber ich scheue das Handgemenge, das ansteht, wenn mich ein frühstückender Wutbürger beim Robin-Hood-mäßigen Handtuchraub überrascht.
Ich gehe jetzt zu einer der kleinen Buchten, wo man auch im Meer schwimmen kann. Jogger kommen mir entgegen, aber auch auffällig viele Spaziergänger, die so tun, als wären sie Jogger, sie kleiden sich farbenfroh, winkeln die Arme an und bewegen sich wie ein Dauerläufer. Aber nur mit den Armen. Die Beine schleichen wie üblich.
Ich setze mich in den dunklen Lavasand. Die ersten Sonnenstrahlen wärmen mich. Das Meer sagt: Beruhig dich. Und ich beruhige mich.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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