Gastronomin Molcho und ihre Söhne: "Das ist unser Tel Aviv"
Die Beine des weißen Plastiksessels graben sich tief in den feinen Sand. Haya Molcho sitzt auf einem der Dutzenden Exemplare am Tel Aviv Beach in Wien, lehnt sich entspannt zurück. Der Donaukanal ist nicht das Mittelmeer, doch diese Sessel sind tatsächlich Originale aus ihrer knapp 2.400 Kilometer Luftlinie entfernten Geburtsstadt.
Sie hat sie extra in ihr Lokal nach Wien bringen lassen, nicht nur weil sie das Flair der israelischen Stadt verströmen, sondern auch ganz persönliche Erinnerungen an ihre Kindheit wecken. „Sehr oft haben wir Familienpicknicks gemacht“, erzählt Haya. „Dazu kam die ganze Familie mit Coolboxen und jeder Menge Delikatessen zum Strand. Wir verbrachten dort wunderschöne Zeiten. Über Generationen hinweg wurde das weitergegeben, und all das spielte sich rund um die weißen Sessel ab.“
Bis sie neun Jahre alt war, lebte Haya Molcho in Tel Aviv, dann zog sie mit ihrer Familie erst nach Deutschland. Später heiratete sie den Pantomimen Samy, ließ sich mit ihm in Wien nieder und begleitete ihn fortan auf seinen Tourneen. So lernte sie verschiedene Länder und ihre Küchen kennen. Die Kulinarik wurde zu ihrer Passion, die sie zum Beruf machte. Zusammen mit ihren Söhnen eröffnete sie das „NENI“ und serviert dort seither israelische Gerichte und orientalische Weltküche inmitten des pulsierenden Treibens des Wiener Naschmarkts, umringt von Düften nach Gewürzen. „NENI“ setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Namen ihrer vier Söhne zusammen: Nuriel, Elior, Nadiv und Ilan. Es folgten weitere Restaurants, unter anderem in Hamburg, Berlin, Köln, München, Zürich, Mallorca, Paris und Amsterdam sowie die Eröffnung des Tel Aviv Beach in Wien, wo wir Haya und ihre Söhne treffen, um mit ihnen gedanklich durch ihr ganz persönliches Tel Aviv zu reisen. Kommende Woche wird der Song Contest die Stadt zum Nabel der Internationalität machen, wenn Musiker aus aller Welt dort um Punkte singen.
Leben trotz Bedrohungen
Die Molchos sind sich einig. Wer durch die Straßen von Tel Aviv spaziert, spürt vor allem eines: Lebensfreude. Und das, obwohl die Stadt seit jeher durch die Konflikte im Land bedroht wird. Auch wenige Tage vor dem Song Contest kam es zu Eskalationen und Gewalt, im Süden Israels wurden Raketen abgeworfen. Zu Redaktionsschluss wurde eine Waffenruhe vereinbart, ob sie hält ist nicht klar. Indes gingen die Proben für den Song Contest weiter, Korrespondenten berichteten von normalem Alltag in Tel Aviv. Es ist etwas Besonderes, dass die Bewohner trotz der Ungewissheit um ihre eigene Sicherheit so lebensfroh sind. Stadtkenner meinen, es könnte sogar ein Grund dafür sein, dass sie mehr im Hier und Jetzt leben als andere.
Die Lokale sind immer gut besucht, das Mobiliar ist ungezwungen. Locker und befreit scheinen die Menschen das Leben zu genießen, sie sitzen an kleinen Tischen, die nicht selten überbordend beladen sind mit kleinen Tellern voller Köstlichkeiten zum Teilen. Hummus, Shwarma, Sabich: Tel Avivs Küche ist genauso pfiffig wie das Flair der gesamten Stadt. Es wird ausprobiert und kombiniert. Ganz nach dem Motto: Nichts muss, aber alles kann.
Es gibt nur wenige Städte, die eine so sympathische Mischung verschiedener Stile bieten wie Tel Aviv. Die geschichtsträchtige Altstadt Jaffa ruht prächtig aber leise neben der „Weißen Stadt“. Das Künstlerviertel „Neve Tzedek“ liegt in der Nähe der Strandpromenade, auf der Einheimische und Touristen an den Klettergerüsten akrobatische Kunststücke vollbringen. Nadiv etwa liebt diesen Ort, erzählt er, schon als Kind war er gerne am „Frishman“-Strand und hat die Menschen dabei beobachtet oder hat selbst an den Stangen geturnt.
Seit der Gründung 1909 hat sich Tel Aviv zu einem beliebten Reiseziel entwickelt. Es ist diese besondere Stimmung, die einen in den Bann zieht. „Die Stadt ist in einer unfassbaren Schnelligkeit entstanden“, sagt Haya. „Vielleicht lebt es sich in Tel Aviv deshalb so intensiv.“ Die Einwanderer hätten Tel Aviv stark geprägt. „Die vielen Mentalitäten machen die Stadt spannend und aufregend. Auch die Küche wurde dadurch beeinflusst, da man viel mehr Zutaten miteinander kombiniert hat.“
Teilen und kreieren
Doch es ist nicht nur diese besondere Mischung auf den Tellern und in den Kochtöpfen, sondern auch das Miteinander bei Tisch. „Bei der israelischen Küche ist man gewohnt, zu teilen“, erzählt Nuriel, „und dadurch bringt es Menschen automatisch zusammen. Man fühlt sich wie zu Hause.“ Er ist Hayas ältester Sohn und liebt das Authentische und Unkomplizierte in Tel Avivs Restaurantszene. Nuriels Bruder Elior ergänzt: „Je flippiger die Stadt, desto kreativer das Essen.“
Teilen und Kreieren – diese zwei Worte sind es, die einem Tel Aviv erst wirklich begreifbar machen. Vieles wird erschaffen in der jungen Stadt am Meer, die sich auch als New York von Israel einen Namen macht. Stilbewusste, junge Menschen lassen sich nieder und tauchen in das Stadtleben ein. Wer kein Hebräisch versteht, könnte glauben, dass sich die Menschen hier permanent streiten. Es geht laut und hektisch zu, zuweilen fast chaotisch, vor allem auf den Märkten – in Wahrheit dominiert aber die Herzlichkeit. Die wilden Wortgefechte sind meist keinesfalls bösartig, sondern bloß temperamentvoll. Abends wird lange in den Cafés und vor den Bars der Straßen gesessen und über das Leben philosophiert, es wird gelacht und am Rothschild Boulevard gefeiert, während im knapp eine Autostunde entfernten Jerusalem nach Sonnenuntergang kaum jemand unterwegs ist.
Die Power Tel Avivs spürt man auch in Österreich – und mit der israelischen Küche kommt ein Stück des Flairs der Stadt zu uns. Die Gerichte sind leicht und bekömmlich statt schwer und butterbeladen. Frische Kräuter, viele Gewürze, knackiges Gemüse – was in Tel Aviv auf den Tisch kommt, erfreut sich auch hierzulande wachsender Beliebtheit. „Hummus ist heute von der Karte nicht mehr wegzudenken“, sagt Haya. „Es gehört schon genauso dazu wie Liptauer.“ Auch Restaurantkonzepte mit Speisen zum Teilen werden immer beliebter. Miteinander zu essen wird zum lieb gewonnenen Ritual.
Es mag an der wachsenden Internationalität in Wien liegen oder generell an einem neuen Essens-Trend. Oder aber an der Rückbesinnung auf das Miteinander, davon jedenfalls ist Haya überzeugt. „Ich habe den Eindruck, dass die Sehnsucht nach Familie wieder stärker wird und dadurch ist die Art, wie wir essen, also das Gemeinsame, angesagt.“
Wer Israel verstehen möchte, sollte sich nicht nur Zeit für Tel Aviv, sondern auch für Jaffa nehmen. Die Jahrtausend alte Hafenstadt ist zu Fuß erreichbar und sprüht vor Geschichte. Auch Sagen und Mythen sollen sich hier zugetragen haben.
Stadt der Kontraste
So soll etwa Prophet Jona am Alten Hafen gegen Befehl Gottes ein Schiff bestiegen haben, deshalb auf dem aufgewühlten Meer von einem Wal verschlungen und nach ein paar Tagen wieder unbeschadet an Land gespuckt worden sein. Ob sich das tatsächlich zugetragen hatte oder nicht: Tel Aviv und Jaffa wurden 1950 zusammengeschlossen und auch Jaffa hat sich zuletzt weiterentwickelt – mit kleinen Boutiquen, schöner Straßenmusik und entzückenden Lokalen. Neben alten Gemäuern entwickeln sich dort in den engen Gassen hippe Läden und Hotels. Diese coole Szene kombiniert mit der langen Geschichte, macht diesen Stadtteil wirklich sehenswert. Beeindruckend ist auch Tel Avivs „Weiße Stadt“.
In den 30er-Jahren flohen Menschen aus Europa nach Tel Aviv, Tausende Häuser wurden errichtet – in schlichtem Stil nach den Ideen des Modernismus, mit klaren Linien und Gebäuden, die viel Licht und Luft durchlassen. Schluss mit Ornamenten, die Zeit der Sachlichkeit war gekommen. Form hatte der Funktion zu folgen, alles, was das Leben der Bewohner nicht verbesserte, wurde weggelassen. Manche Historiker sagen: Diese Reduktion aufs Wesentliche passte gut ins Bild.
Es ging um eine neue Art des Zusammenlebens, bei dem alle gleichberechtigt sein sollten und keiner mit Besitz prahlt. 2003 hat die UNESCO den Stadtkern Tel Avivs mit dem Prädikat Weltkulturerbe gewürdigt, seither trägt das Zentrum auch den Namen „Weiße Stadt“. Zum 100. Bauhaus-Jubiläum hat sich das Viertel besonders herausgeputzt, doch es gibt ein Problem: Es droht zu verfallen. Handwerker, Architekten und auch Bewohner versuchen seit einiger Zeit die baufälligen Gebäude zu retten, deren Fassaden von Sand und Hitze angegriffen sind.
Gebaut und ausgebessert wird in Tel Aviv offenbar ständig. Baukräne prägen das Stadtbild, zwischen älteren Gebäuden finden sich neu renovierte Villen und moderne Boutique-Hotels. Durch die Technik- und Unternehmerszene erlebt die Stadt seit einigen Jahren einen Schub im Immobiliensektor. Auch hier zeigt sich also Tel Avivs sympathische Mischung der Stile und Designs.
Etwa vier Mal im Jahr kommen die Molchos zu ihren Verwandten nach Tel Aviv. Doch neben Wien bereisen sie auch viele andere Städte. „Wir sind Nomaden“, sagen sie von sich, und es scheint ihnen zu gefallen. Der Zusammenhalt in der Familie ist spürbar, wie beste Freunde und doch ist Haya ihren Söhnen auch Vorbild und Mutter. Der morgige Muttertag spielt für sie aber keine wichtige Rolle. Die Begründung ist so einfach wie logisch: „In unserer Beziehung in der Familie brauchen wir keinen bestimmten Tag, um unsere Gefühle zu zeigen“, sagt Haya, lächelt ihren Söhnen zu, sie lächeln herzlich zurück.
Dann greifen sie zum Besteck und essen miteinander von den Tellern in der Mitte des Tisches. Dabei wird angeregt geplaudert. Die Sonne heizt den Sand unter unseren Füßen auf. Die Musik schallt aus den Lautsprechern. Fast könnte man glauben, wir säßen nicht am Donaukanal, sondern am Strand von Tel Aviv. Einer Stadt, in der die Eskalationen hoffentlich verschwinden und Frieden einziehen kann.
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