Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit
Livingston an der Mündung des Río Dulce in den Golf von Honduras: Ganz abgeschieden an der Karibikküste zeigt sich Guatemala von seiner Sonnenseite. Aber nicht nur. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez.

Endlich angekommen am gefühlten Ende der Welt. Guatemala weit abseits aller Massentouristenpfade. Nach Belize ist es von hier nur ein Katzensprung. Mit dem Wassertaxi, dem wohl schönsten öffentlichen Verkehrsmittel, geht die Reise auf dem Río Dulce vom Izabal-See, dem größten See Guatemalas, in Richtung Karibikküste, vor der zu Kolonialzeiten Piraten und Abenteurer um die Herrschaft über die Region kämpften. Vorbei an der Vogelinsel „Isla de Pajeros“, den heißen Thermen „Aguas Calientes“ und den Mayadörfern am Flussufer.

Östlich des Ortes Río Dulce verbreitert sich der Fluss zum See. Die Nordseite gehört zu einem Naturschutzgebiet, das Dschungel, Mangroven, Inseln mit Vogelbrutgebieten und Lagunen umfasst, und das für die vom Aussterben bedrohten Manatis – Seekühe – eingerichtet wurde. Aus einem von tropischem Grün überwucherten Canyon ragen an beiden Seiten des Flusses die Wände steil empor. Am Ufer der Regenwald, heiße Quellen und zahllose Wasservögel.

Die Entdeckung der Langsamkeit
3981-38: Livingston, tropical jungle scenery of Rio Dulce.

In der „laguna del mal cocinando“ erklärt sich Guatemalas Beiname „Seele der Erde“ ganz von allein: Der Mensch ist hier zu Gast in der Natur. Und Livingston an der Karibikküste im Departamento Izabal neben Puerto Barrios, dem größten Bananen-Verladehafen an der Karibik, ist der einzige bewohnte Flecken am schmalen Karibikküstenstreifen. Zu erreichen ist das quirlig-bunte Städtchen nur über das Meer oder in einer mehrstündigen Bootsfahrt auf dem Rìo Dulce, der sich wild und schön durch den Urwald schlängelt. Wo Pelikane auf Palmen sitzen, wo Reiher und Kormorane durch die Luft schwirren, dort ist neben den Mestizen (Ladinos) und Indígenos (Kekchí) noch eine dritte Ethnie beheimatet: die Garifunas, Nachfahren entlaufener Sklaven aus Westafrika, sprechen ihre eigene Sprache und lehren ihre Kinder den Punta-Tanz. Livingston mit seinem tropischen Flair erinnert frappant an Macondo. An diesem fiktiven Ort hat Gabriel García Márquez seinen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ angesiedelt. Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger hatte ihn als ein „Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus“ imaginiert, „am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahineilte durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Die Welt war noch so jung, dass viele Dinge des Namens entbehrten“, schrieb Márquez, als hätte er sich von der entlegenen Region in Guatemala inspirieren lassen. „Man braucht in Südamerika keine große Erfindungsgabe. Man steht eher vor dem Problem, das, was man in der Wirklichkeit vorfindet, glaubhaft zu machen.“

So bunt wie die Bevölkerung in dem Teil des Landes sind hier auch die Häuser, die Gerichte in den Restaurants und die Stimmung auf den belebten Straßen zur Abenddämmerung. Draußen vor der Bar leuchtet die Reklame der Nationalbiermarke „Gallo“ – ein schwarzer Hahn. Auf den hölzernen Veranden sitzen Einheimische und Rucksackreisende, trinken Gin Fizz und Coco Loco, einen Kokosnuss-Cocktail. Aus offenen Fenstern dringt Reggae-Musik. Und man erinnert sich an Jorge Luis Borges: „Ich habe die schwerste Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte: Ich war nicht glücklich.“ Wer hier im Abseits der Welt länger und genauer hinschaut, entdeckt vermutlich Macondo, diesen einzigartigen Schauplatz einer Welt, in der sich geschichtliche Entwicklungen, alle Träume, Albträume und Entdeckungen des Menschen noch einmal wiederholen.

Im Mikrokosmos Macondo enthüllt Márquez die geschichtliche Wirklichkeit Lateinamerikas und die Tragödie seiner Verlorenheit und Einsamkeit. Er erzählt vom Leben und Sterben der Buendías, von ihrer Abenteuerlust und ihrer Erfindungsgabe, von ihren Triumphen und Niederlagen, von Wahnvorstellungen, von der unbändigen, aber auch fatalen Vitalität ihrer Männer und der Klugheit ihrer Frauen.

Just als die gestresste Seele zur Ruhe kam und die Entschleunigung zu wirken begann, war plötzlich Zeit da für das Wesentliche. Auch das hat Márquez in einem Abschiedsbrief nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Leben formuliert. Was würde er machen, schenkte ihm Gott noch etwas mehr Leben? „Ich würde den Menschen beweisen, dass sie sich täuschen, wenn sie glauben, weniger leidenschaftlich zu sein, weil sie älter werden, ohne zu wissen, dass sie älter werden, weil sie aufhören, leidenschaftlich zu sein. Den Kindern würde ich Flügel schenken, und es ihnen dabei selbst überlassen, das Fliegen zu erlernen. Den Alten würde ich beibringen, dass der Tod nicht mit dem Alter, sondern mit dem Vergessen kommt.“

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