Die Entdeckung des Nichtstuns
Südwestlich der Kapverdischen Inseln ist der Atlantik endlich alleine mit sich. Hier gibt es nur noch Wasser, Tausende von Quadratkilometern weit. Es ist später Vormittag, die Sonne steht schon hoch. Ein leichter Wind weht über das Meer und setzt weiße Schaumkrönchen auf die Wellen. Ich lehne an der Reling und versuche auszumachen, wo genau der blaue Ozean aufhört und der blaue Himmel beginnt. Doch der Horizont ist in jede Richtung so weit weg, dass man ihn bloß erahnen kann. Die Grenze zwischen Wasser und Himmel verschwimmt im dunstigen Licht.
Es ist perfekt. Und niemand wird mich stören. Auch nicht, wenn ich den ganzen Tag lang hier stehe.
So hatte ich mir das vorgestellt, genau so. Mit diesem Bild im Kopf war ich zwölf Tage vorher an Bord gegangen. Okay, vielleicht sollte ich zugeben, dass es in meiner Fantasie weniger laut gewesen war. Den 60.000-PS-Motor, ein paar Stockwerke unter mir, hatte ich in meinen Urlaubsvisionen vergessen. Aber das gleichmäßige Dröhnen aus dem Maschinenraum wird schnell zu einer Hintergrundmusik, die man kaum noch wahrnimmt. Es gehört dazu wie das ständige Schwanken des Schiffes in den Wellen.
Doch zurück zum Start, als alles begann: Vor zehn, fünfzehn Jahren hatte ich irgendwo gelesen, dass man das Meer nicht nur auf Kreuzfahrtschiffen mit Animationsprogramm befahren kann, sondern auch auf Frachtern. Seither war der Plan, einmal derart zu reisen, in meinem Kopf und wollte nicht mehr raus. Die Umsetzung ließ sich leichter an als erwartet. Tickets für
Frachtschiffe kann man ebenso problemlos buchen wie eine Rundfahrt auf dem Luxusdampfer. Allerdings gibt es Unterschiede in den Details: Anders als die „Aida“-Kundschaft wird der angehende Passagier eines Frachters mehrfach darauf hingewiesen, dass auf seine Wünsche überhaupt keine Rücksicht genommen wird. Es handle sich um „keine Pauschalreise“, steht in den Beförderungsbedingungen. „Dies bedeutet, dass die Belange der Ladung und alle damit verbundenen Operationen den Interessen des Passagiers vorgehen.“ Das ist wenigstens ehrlich.
ch entscheide mich für die Strecke
Genua – Buenos Aires auf der MS „Rio de Janeiro“, einem Containerschiff der deutschen Reederei Hamburg Süd. Vorgesehene Reisedauer: 22 Tage. Entfernung: mehr als 12.000 Kilometer. Höchstgeschwindigkeit: 23 Knoten, also etwa so schnell wie ein Mofa. Die Reisebegleiter: rund 20 Offiziere und Matrosen aus Deutschland, Polen sowie von der Pazifikinsel Kiribati – und, das ist die Hauptsache – etwa 4.500 Container mit Waren aller Art, vom Babyschnuller bis zum Feuerwehrauto. Das Schiff soll bis Buenos Aires sechs Häfen anlaufen, und zwar in Fos-sur-Mer, Barcelona, Valencia, Suape, Rio de Janeiro und Santos. Also von Italien nach Argentienien über Frankreich, Spanien und Brasilien. Theoretisch müsste überall ein Landgang möglich sein. Aber versprochen wird das nicht. Es geht ja, man kann es gar nicht oft genug betonen, bei dieser Reise nicht um mich.
An einem sonnigen Nachmittag sitze ich im Auto von Salvatore, einem Mitarbeiter der Reederei, und lasse mich durch den Containerhafen von Genua fahren. Plötzlich, nach einer scharfen Rechtskurve, steht das mächtige Hinterteil der „Rio der Janeiro“ vor mir. Ein Trumm von einem Schiff, lippenstiftrot lackiert und mit so vielen Tauen fixiert, als gelte es, drohende Ausbruchsversuche zu verhindern. Wie sich herausstellt, hat die Gangway nichts mit den hübschen, stabilen Treppchen gemeinsam, die man vom „Traumschiff“ kennt. Diese hier ist mindestens 15 Meter hoch und ähnelt einem wackeligen Klettersteig. Es gibt Menschen, die so ein Schiff nur mit Mühe betreten und nie wieder verlassen könnten. Denn bergab wird die Sache bestimmt nicht lustiger.
Als Passagier eines Frachters sieht man dieselben Sonnenuntergänge wie auf einem Luxus-Dampfer.
„Owner-Suite“ steht auf meiner Kabinentür. Und obwohl der Reeder im richtigen Leben natürlich mit dem Flugzeug reist, kann man sich gut vorstellen, wie hier ein geschäftstüchtiger Gentleman mit einem dicken Siegelring am Finger ausrechnet, ob er noch ein paar tausend Tonnen Weizen mehr laden soll. Ich habe einen deutlich größeren Schreibtisch als im Büro, eine Sitzgruppe, eine Vitrine, eine Kommode, einen Kühlschrank und einen DVD-Player mit Flatscreen. Der Bildschirm steht auf der Kommode und ist mit zwei Kabeln an der Wand fixiert. Anfangs halte ich das für übertrieben. Aber schnell wird mir klar, dass der Bildschirm ohne Bondage keine fünf Minuten an seinem Platz bleiben würde. Er wackelt selbst mit Fesseln so rhythmisch wie die Dackel, die eine gewisse Sorte von Autofahrern auf der Hutablage hält. Im zweiten Raum stehen zwei Betten, ein großer Kleiderschrank und noch eine Kommode. Von hier aus kommt man ins Bad, das winzig, aber erstaunlich praktisch ist.
Durch die Fenster sehe ich über die bunten Container bis zum Bug, links, rechts und davor auf das weite Meer. Dieser Ausblick wird mir drei Wochen lang nicht auf die Nerven gehen. Als Passagier auf einem Frachter zu reisen, ist eine sehr exklusive Angelegenheit. Neben meiner Kabine gibt es nur noch ein Einzelzimmer, in das später Luise, eine pensionierte Schweizerin mit Flugangst, einziehen wird. Das war’s. Mehr Gäste dürfen nicht mitfahren. Und während Kreuzfahrtpassagiere dem Captains Dinner entgegenfiebern, kann ich mit Kapitän Ivaylo und den Offizieren jeden Tag drei Mal speisen und darf mich auf der Brücke – dem Kommandozentrum – frei bewegen. Die Exklusivität endet aber umgehend, wenn es um die besonderen Bedürfnisse eines Urlaubers geht. Bootsmann Daniel benötigt zwei Tage, um irgendwo im Bauch des Schiffes eine alte, etwas ramponierte Sonnenliege für mich aufzutreiben. „Wenn du sie nicht mehr brauchst, hängst du sie hier rauf“, befiehlt der strenge Preuße und zeigt auf einen Haken an der Wand von Deck F. „Sonst rutscht das Teil die ganze Zeit hin und her.“
Natürlich wird an Bord der „Rio de Janeiro“ auch nicht gekocht wie auf dem Traumschiff. Teakamatang, der Küchenchef, stammt aus Kiribati und erlernte sein Handwerk in Deutschland. Dass diese Kombination in der Gastronomie eher selten vorkommt, hat Gründe: Teakamatang serviert lustige Sachen wie „Strammer Max“ und „Toast Hawaii“, die mich kulinarisch umweglos in die 1980er-Jahre beamen. Einmal gibt es Schweinsbraten (mit Karfiol, das ist ein wenig seltsam), und einmal sogar eine gebratene Forelle (mitten auf dem Atlantik – wenn das die Thunfische unter uns wüssten). Meistens sind seine Kreationen essbar, gelegentlich sogar ganz gut. Nur Kapitän Ivaylo, ein Bulgare, kann sich mit dem Gebotenen überhaupt nicht anfreunden. „German cooking is only wurrrst and potatoes“, schimpft er gerne.
Es gibt Touristen, die auf Frachtern monate- oder jahrelang um die Welt reisen. Das wäre mir vielleicht doch eine Spur zu entrückt. Aber für ein paar Wochen ist so ein schwimmendes Funkloch ohne Handy-, Internet- und Fernsehempfang Balsam für die Seele. Schon nach den ersten zwei, drei Tagen rückt der Alltag daheim ganz weit weg. Worüber genau habe ich mir zu Hause eigentlich dauernd den Kopf zerbrochen? Die Zeit vergeht mit Lesen, etwas Sport im kleinen Fitnessraum, Spaziergängen an Deck (also unter oder neben den Containern), ein bisschen Tratsch mit der Besatzung und, das ist am schönsten, sehr vielen Übungsstunden in der Disziplin des entspannten Aufs-meerschauens. Mit Musik aus dem iPod wird daraus eine meditative Beschäftigung, die einen wunderbar unterhält. Nachts schlafe ich wie ein Baby, nur länger.
Langweilig? Auch, aber nur selten. Meistens ist es unglaublich beruhigend, einfach NICHTS tun zu müssen, das meiste auch gar nicht tun zu können. Freedom is just another word for nothing left to do. Oder so ähnlich. Sogar das Meer ist relaxt. Der Atlantik benimmt sich drei Wochen lang wie ein Kärntner See im Sommer und ist für hohe Wellen schlicht zu faul. Fast jeden Tag scheint die Sonne auf einen tiefblauen, sanft schaukelnden Ozean. Der perfekte Inaktivurlaub. Trotzdem ist jeder Landgang natürlich eine willkommene Abwechslung.
Doch ganz so einfach wird das nicht, wie sich schon im ersten Hafen zeigt. Fos-sur-Mer, der Containerterminal von Marseille, liegt in einer Gegend, die von Immobilienmaklern wohl als „wirtschaftlich aufstrebend“ bezeichnet würde. Ringsum gibt es nur rauchende Schlote, Kräne und Lagerhallen. Wir haben hier irgendwann in der Nacht angelegt und fahren am nächsten Tag zu Mittag wieder weg. Es bleibt also keine Zeit für einen Ausflug nach Marseille. Genauso läuft es in Valencia und im brasilianischen Santos. Das Be- und Entladen geht in modernen, vollautomatisierten Häfen so schnell, dass die alten Seemanns-Klischees schon aus Zeitgründen nichts mehr taugen. „Vor ein paar Jahren war das noch anders“, seufzt ein Offizier. „Damals wäre eine Geliebte in jedem Hafen wenigstens theoretisch möglich gewesen.“
In Rio de Janeiro reicht die Zeit für einen Landausflug. Allerdings hätte sie fast nicht gereicht, um nach dem Stadtrundgang das
Schiff wiederzufinden. Der Taxifahrer weiß leider nur ungefähr, wo die großen Kähne vor Anker liegen. Als er weg ist, stelle ich fest, dass alles ganz anders aussieht als am Morgen. Wer es nicht glaubt, soll einen Versuch machen: Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, an denen man sich so verloren fühlen kann wie im falschen Eck eines riesigen Containerhafens, bei Nieselregen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Zum Glück genießt man als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs in Rio eine optimale Betreuung. Meine Rettungskette wächst im Lauf der Operation auf sechs, sieben Herren, die mir allesamt erklären, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Vor der letzten Etappe drückt mir einer noch einen Helm in die Hand, den mir ein anderer am Fuß der Gangway wieder abnimmt. Tudo bem, wie der Brasilianer sagt.
Die größte Sorge meiner Freunde zu Hause betraf das Personal an Bord. Matrosen genießen ja nicht den besten Ruf. Ein Kollege skizzierte den typischen Seemann wie folgt: „Der trägt ein verschwitztes Ruderleiberl, hat eine „Jenny“-Tätowierung auf dem Unterarm und kratzt jede Nacht betrunken an deiner Zimmertür. Tja.
In Wirklichkeit gehört nicht einmal mehr die christliche Seefahrt den Männern alleine. Der zweite Offizier heißt Elena und ist eine junge Deutsche. Chief Mate Thomas (der erste Offizier und Stellvertreter des Kapitäns) hat für ein paar Wochen seine Frau Antje und den kleinen Sohn mit an Bord genommen. Mit Luise, der Schweizerin, und mir sind wir also schon zu viert. Und die Männer wirken allesamt sehr manierlich. Vielleicht sogar zu manierlich; die Zahl der Nerds dürfte über dem Schnitt liegen. Alleinunterhalter landen offenbar selten in der Handelsschiffbranche.
Das Showprogramm fällt also aus. Dafür bekommt man als Passagier eines Frachters spannende Einblicke in eine völlig fremde Arbeitswelt. Chief
Mate Thomas zeigt Luise und mir die Instrumente auf der Brücke und lässt uns mit dem Sextanten herumwerkeln (der natürlich nur noch Dekoration ist. Navigiert wird heutzutage mit GPS).
Chefingenieur Piotr führt uns durch den riesigen Maschinenraum und präsentiert voll Hausherrenstolz dessen wichtigste Bestandteile: die 60.000-PS-Motoren, die Salzwasseraufbereitungsanlage und den Generator. Piotr will uns alles Mögliche erklären, aber sein Englisch klingt schon unter normalen Bedingungen, also zum Beispiel beim Mittagessen, wie ein klingonischer Dialekt. Im tosenden Lärm der Motoren und durch die Ohrenschützer hindurch verstehen wir leider nicht viel. Macht nichts: der Gesamteindruck zählt.
Bis vor kurzem hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ein fast 300 Meter langes Frachtschiff im Hafen seitwärts einparken kann. Das geht problemlos. Und zwar weil ein Schiff – anders als ein Auto – zur Seite gezogen werden kann. Diese Aufgabe übernehmen sogenannte TUG-Boote, kleine, gelbe Muskelpakete, die dort ziehen, wo sich die schwerfällige Rio nicht von alleine hindrehen kann. Es ist ein skurriler Anblick, wenn das winzige TUG unser rotes Bröckerl in den Hafen zieht. Gerade so, als würde ein Goldfisch mit einem Pottwal an der Leine spazierenschwimmen.
Auch die Logistik im Hafen ist immer wieder ein Spektakel. Kaum haben wir angelegt, fahren die riesigen Kräne aus, und der „Spreader“ platziert jeden Container innerhalb von Sekunden an der richtigen Stelle. Sieht aus wie Tetris in ganz Groß.
Um bis zu drei, vier Tage könne sich die Ankunft in
Buenos Aires verspäten, hatte mich der Veranstalter gewarnt. Im Frachtverkehr ließen sich Termine leider nicht genau angeben, hieß es. Doch auch darauf ist kein Verlass: Pünktlich wie die Schweizer Eisenbahn erreichen wir nach 22 Tagen am späten Abend unser Ziel. Der Lotse dirigiert uns in den hintersten Teil des Hafens, wo neben einem anderen Koloss der Reederei Maersk noch ein Plätzchen frei ist. Das TUG-Boot zieht die „Rio de Janeiro“ um die Kurve, langsam dreht sich das Schiff. Dann legen wir an.
Libellen umschwirren die Lichter an Deck. Es riecht nach Hafen, die Motoren der Ladekräne dröhnen. Mein Handy piepst unternehmungslustig, als ich es einschalte. Schön, wieder an Land zu sein. Aber das Meer wird mir fehlen.
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