Wenn Gedanken den Alltag diktieren – Leben mit Zwangsstörungen

Offen über Zwänge sprechen: Hier trifft Fachwissen auf Erfahrung.
Beim jüngsten KURIER Live Gesundheitstalk in der hauseigenen Medienlounge stand das Thema „Zwänge“ im Mittelpunkt – zahlreiche Interessierte waren vor Ort dabei. Moderatorin Kathi Hierhacker führte durch das Gespräch, das fachlich fundiert war und gleichzeitig einen authentischen Einblick in das Leben mit Zwangsstörungen bot. Zu Gast waren Dr. Ulrich Förstner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberarzt und Leiter des Behandlungsschwerpunkts Zwangsstörungen in den AMEOS Klinika in Bad Aussee, sowie Melanie Reingruber, die offen über ihren Weg mit der Erkrankung sprach.
Schätzungen zufolge leben rund 200.000 Menschen in Österreich mit einer Zwangsstörung – häufig bleibt sie lange unerkannt. „Im Durchschnitt dauert es sechs bis sieben Jahre, bis die Diagnose gestellt wird“, erklärte Dr. Förstner. „Viele Betroffene haben zuvor bereits mehrere Anläufe genommen, sich Hilfe zu holen – nicht immer an der richtigen Stelle.“ Auch bei Melanie Reingruber zog sich der Weg zur Diagnose über Jahre. Erste Symptome traten bereits in ihrer Kindheit auf. „Ich hatte das Bedürfnis, meine Stifte täglich neu zu ordnen – obwohl sie kaum benutzt waren“, berichtete sie. Später wurde der Alltag zunehmend von Zwängen bestimmt. Erst 2020 fand sie im AMEOS Privatklinikum Bad Aussee gezielte Unterstützung. „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, an der richtigen Stelle zu sein.“
Zwänge – mehr als ein harmloser Tick Dr. Förstner erläuterte die vielfältigen Ausprägungen der Erkrankung: „Zwangshandlungen wie übermäßiges Waschen oder Kontrollieren zählen zu den häufigsten Erscheinungsformen. Andere wiederum erleben belastende Gedanken, etwa die Angst, ungewollt jemandem zu schaden.“ Entscheidend sei, die Zwänge als behandlungsbedürftige psychische Erkrankung zu erkennen – und sich entsprechend unterstützen zu lassen.

Dr. Ulrich Förstner

Melanie Reingruber
Die effektivste Therapieform ist laut Förstner die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition. „Etwa 70 Prozent der Betroffenen profitieren davon. Auch bestimmte Medikamente können hilfreich sein, es sollte jedoch immer zusätzlich auch eine Psychotherapie angeboten werden.“ Reingruber beschreibt, wie sie in der Klinik lernte, ihre Erkrankung zu akzeptieren: „Das war der wichtigste Schritt. Heute kann ich wieder arbeiten und bin dabei, mein Studium abzuschließen – auch wenn es einfachere und herausfordernde Tage gibt.“
Mut zur Offenheit und Geduld im Alltag: Neben der Behandlung spielt auch das soziale Umfeld eine große Rolle. „Viele Angehörige versuchen zu helfen, indem sie beruhigen oder kontrollieren – oft gut gemeint, aber nicht hilfreich“, so Förstner. Idealerweise sollten sie in die Therapie einbezogen werden. Auch Reingrubers Familie, Partner, Freunde und Arbeitgeber unterstützen sie heute im Alltag – durch Verständnis, Geduld und die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Am Ende des Talks wurde deutlich, wie wichtig Entstigmatisierung und Aufklärung sind. „Zwangsstörungen sind behandelbar. Es hilft, darüber zu reden und die Erkrankung ernst zu nehmen – ohne zu dramatisieren“, betonte Förstner. Viele Betroffene könnten mit der richtigen Unterstützung ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen.
Melanie Reingruber richtete sich zum Schluss an andere Betroffene: „Es ist wichtig, sich an Professionisten zu wenden. Nicht von Spital zu Spital oder von Diagnose zu Diagnose zu hetzen, sondern dem Gefühl vertrauen und zu wissen: Es gibt auch andere Menschen, die unter derselben Störung leiden – und auch Anlaufstellen, wo man Hilfe erfährt.“