Stahlwerk mit Herz aus Holz

Als Franz Krull vor mehr als 125 Jahren in Tallinn eine der damals modernsten Fabrikanlagen errichten ließ, ging’s ihm vermutlich eher peripher um deren architektonische Schönheit. Aber die Zeiten ändern sich: Inzwischen gilt das Stahlwerk, das der estnische Industrielle deutscher Herkunft damals schuf, als hoch geschätztes kulturelles Erbe. Und es geht als Herzstück eines neuen Stadtviertels namens Krulli Kvartal einer spannenden Zukunft entgegen. Denn der Masterplan des dänischen Top-Büros COBE nützt den industriellen Charakter des Bestands geschickt für seine Zwecke.
Außen geputzt, innen ganz neu
Die drei nebeneinander liegenden Fabriktrakte werden nicht einfach nur erhalten und restauriert. Sie bekommen auch ein innovatives „Innenleben“: Eine Holzkonstruktion, die flexible Raumaufteilung ermöglicht und die imposanten Bauten damit für aktuelle und künftige Bedürfnisse bereitmacht.
Treffpunkt für Menschen & Ideen
Die Höhe und die großen Spannweiten der alten Hallen bieten beste Voraussetzungen für kreative Neunutzung verschiedenster Art. Ein Umstand, der den COBE-Architekten in die Hände spielt. Schließlich sollen die historischen Bauten bald als einladender Innovations-Hub und öffentlicher Treffpunkt des neuen Krulli Kvartal dienen.

Die ersten, vom estnischen Architekten Andres Alver konzipierten Pläne für das Großprojekt wurden 2021 vorgelegt. Cobes Masterplan basiert darauf und kombiniert alte und neue Gebäude mit einem dichten Netz öffentlicher Räume. Das Ziel: Ein architektonisch und landschaftlich harmonisches Stadtquartier, in dem alles auf kurzem Weg erreichbar ist. Rund ums öffentliche „Herz“ werden auf dem 10,2 Hektar großen Areal 600 neue Wohnungen und 3.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
„Schatzkiste“ Krulli Kvarter
COBE Gründer Dan Stubbergaard bezeichnet das Gelände des Krulli Kvartals als „Schatzkiste voller Materialien, Gebäude und urbaner Qualitäten“, die nur darauf warten, transformiert und wiederverwendet zu werden: „Angesichts des Klimawandels und der Ressourcenknappheit ist das nachhaltigste und sinnvollste Projekt immer das, das bereits gebaut wurde.“
Angesichts des Klimawandels und der Ressourcenknappheit ist das nachhaltigste und sinnvollste Projekt immer das, das bereits gebaut wurde. Dan Stubbergaard, Architekt und COBE-Gründer
Zwischen den bestehenden Industriegebäuden und Fassaden entsteht eine Reihe neu gestalteter städtischer Räume, die das Rückgrat des Gebiets bilden. Diese Räume bieten eine Vielzahl öffentlicher Funktionen. Und sind so konzipiert, dass sie zu jeder Tageszeit und das ganze Jahr über genutzt werden können.

Das Projekt priorisiert ökologisch und ökonomisch sinnvolle Wiederverwendungsziele. Ein „Ressourcentreppen“-Ansatz schafft, so Stubbergaard, eine Hierarchie für alle vor Ort vorhandenen Materialien und alle neuen Ergänzungen: „Wiederverwendung hat immer höchste Priorität.“ Die nächsten Stufen sind Upcycling bestehender Gebäudeteile, der Einsatz neuer biogener, und schließlich die Verwendung neuer und recycelter Materialien. Kohlenstoffintensive neue Materialien wie Beton bleiben stets nur als Option der letzten Wahl.
Neues Viertel im coolen „Industrial“-Look
Weil viele Elemente des Bestands erhalten bleiben oder neu zum Einsatz kommen, wird der einst rein industrielle Charakter das Bild des neuen Quartiers prägen. Nicht allein in Form renovierter Gebäude und deren Fassaden, sondern auch andernorts durch Materialien und Farben.


Den aus den drei Fabrikhallen bestehenden Innovations-Hub gestalten die COBE Architekten wie einen öffentlich zugänglichen, luftig hellen und begrünten Wintergarten. Seine historischen Gebäudestrukturen werden mit der neuen Holz- und der aus wiederverwendeten Stahlelementen gefertigten Dach-Konstruktion kombiniert.
Wohliges Herz aus Holz
Neue Werkstätten, Labore, Cafes, Ausstellungsräume und Einzelhandelsflächen in Holzbauweise sind in die Hallenvolumina eingebettet. Die Fassaden werden erhalten und alte Industriekräne zu Brücken umfunktioniert, die Verbindungswege zwischen den Hallen schaffen.

In zwei der Trakte setzt COBE ein neues vierstöckiges Bürogebäude in Holzbauweise, das als filigrane Holz-Glas-Konstruktion aus der Dachlinie herausragt. Die Dachstühle werden genutzt, um ein weitgespanntes, flexibles oberstes Stockwerk zu schaffen und die Form der Dachlinie des Bürohauses zu definieren. Der Giebel wird neu interpretiert und mit zerkleinertem Kalksteinabfall wiederhergestellt.
Nachhaltige Umnutzung
Das auf Umbau, Holz und Recycling konzentrierte Konzept sorgt dafür, dass der CO2-Fußabdruck möglichst klein bleibt. Er soll um stolze 65 Prozent geringer ausfallen als jener durchschnittlicher Büroneubauten.

Mit dem Masterplan für Tallinns Krulli Kvartal demonstriert das dänische Büro, das etwa auch den spektakulären Wohnturm Stadsljus in Stockholm und das Science Center für Lund designt hat, einmal mehr, wie gut sich verwaiste Industrieanlagen für neue Zwecke adaptieren lassen. Das als einladender Treffpunkt konzipierte Innovationszentrum soll 2027 fertiggestellt werden und dem neuen Stadtquartier seine spezielle Identität verleihen. Durch einen zentralen Ort, der Kreatives fördert und seinen Nutzern Freude macht, indem er Geschichte und Zukunft auf eindrucksvolle Art verbindet.
Text: Elisabeth Schneyder Bilder: COBE
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