Schmal is beautiful

Amsterdam wimmelt nur so vor geschichtsträchtigen Häusern. Allerdings ist es nicht immer einfach, sie auf den neuesten und modernsten Stand zu bringen. Dem Architekturbüro i29 ist mit dem Grachtenhaus in der Nähe von Amstelveld ein Geniestreich gelungen.
Der Traum vom Grachtenhaus
Das in Amsterdam ansässige preisgekrönte Studio i29 hat ein vernachlässigtes Grachtenhaus aus dem 17. Jahrhundert in ein helles Zuhause mit unerwarteten Ausblicken und Raum für entdeckerische Neigungen verwandelt. Das Haus, das an den Grachten bei Amstelveld liegt, wurde ursprünglich 1675 erbaut. Im Laufe der Jahre war das vernachlässigte Haus fast völlig verfallen.
Die Renovierung dauerte in Zusammenarbeit mit einem Team von Spezialisten mehr als zwei Jahre. i29 ist auch für das Innendesign des nachhaltigen Projekts Floating Home in Amsterdam verantwortlich.


Im Jahr 1658 musste die niederländische Hauptstadt erweitert werden, und es wurde eine lange Straße zwischen Keizers- und Prinsengracht geplant, die Kerkstraat. Einer der Plätze entlang dieser Straße ist der Amstelveld, nahe der Reguliersgracht und Prinsengracht. Nun liegt der Amstelveld mitten im Zentrum von Amsterdam.
Hier finden regelmäßig Blumen- und Antiquitätenmärkte statt. Auf dem Platz steht die Amstelkerk, ein altes überwiegend aus Holz erbautes Gebäude sowie eine kleine Statue der Amsterdamer Volksfigur Kokadorus. Letzterer war ein niederländischer Marktschreier. Der richtige Name des 1867 geborenen Kaufmannes lautete Meijer Linnewiel.


Zentral gelegen
Der Standort Amstelveld mag die Holland-Touristen möglicherweise nicht restlos begeistern, wiewohl die kaukasischen Flügelnuss-Bäume für ein wenig Grün auf dem großteils bepflasterten und betonierten Platz sorgen. Einheimische freilich genießen die Vorzüge des sehr zentral gelegenen Standorts.
Und so kostet eine zweigeschoßige Wohnung mit 89 Quadratmetern Fläche, also zwei Zimmern, Ende 2022 locker mal 750.000 Euro. Ein Objekt, das die Herzen von Developern zweifellos höher schlagen lässt, ist ein 288 Quadratmeter großes Loft mit vier bis fünf Meter Raumhöhen um 3,45 Millionen Euro – ein derartiges Grachtenhaus ist kaum mehr zu erstehen.


Nationales Kulturerbe
Kein Wunder, dass man versucht, auch sehr alte Bausubstanz dort wieder zum Leben zu erwecken. Die Herausforderung für Architekten liegt darin, die schmalen Häuser funktional zu gestalten und das Optimum aus den kniffligen Grundrissen herauszuholen.

Die ältesten Häuser von Amsterdam, mit ihren verzierten Giebelfassaden, sind ein nationales Kulturerbe. Viele dieser erstaunlichen architektonischen Besonderheiten, die man am Grachtengürtel Amsterdams findet, reichen zurück ins Goldene Zeitalter Hollands. Damals wurde die Gebäudesteuer nach der Breite der Fassade des Anwesens erhoben. Dies erklärt, warum die Kanalhäuser so schmal errichtet wurden. Die Gracht ist allgemein der niederländische Begriff für Kanal, Graben oder Wassergraben.
Das Haus, welches als das schmalste von Amsterdam gilt, wurde um 1600 an der Oude Hoogstraat erbaut. Es misst lediglich 2,02 Meter in der Breite und ist nur 5 Meter tief. Da geht sich nicht viel Wohnraum aus. Und so ist dieses Haus heute als kleinster „Tearoom Amsterdams” öffentlich zugänglich. Das Grachtenhaus am der Adresse Singel 7 verfügt über eine Fassade, die gar nur etwas mehr als einen Meter breit ist – allerdings an der Rückseite des Gebäudes.


Die Experten von i29 haben ihre Eingriffe für das Wohnhaus am Amstelveld mit 115 Quadratmetern Fläche maßgeschneidert konzipiert. Es fügt sich weiterhin unverstellt in die Umgebung ein. Gleichzeitig haben die Architekten aber die Wohnqualität des Hauses auf ein neues Niveau gehoben, sodass sich auch die kommenden Generationen daran erfreuen werden.
Unerwartete Sichtachsen
Das neue Interieur hebt die verschiedenen Wohnbereiche farblich hervor. Die ursprünglichen Details werden in den farbenfrohen Räumen auf unterschiedliche Weise freigelegt – oder eben auch fast wie bei einem Suchspiel versteckt.

Um unerwartete Sichtachsen und ein räumliches Erlebnis zu schaffen, werden die verschiedenen Räume miteinander verbunden, indem die Farbe oder das Finish nahtlos von einem Raum in den anderen übergeht. Die neue Gestaltung, die neuen Oberflächen tragen unverkennbar die Handschrift von i29.
Verbindende Farbgebung
Der Küchenbereich im Erdgeschoss ist mit weißem Beton ausgestaltet. Markant sind die hellen Wände und der individuell gestaltete Küchen- und Esstisch aus Eiche. Im grünen Glasvolumen verbirgt sich ein voll ausgestattetes Gästezimmer mit eigenem Bad und Zugang zum Innengarten.

Verbindendes Element der Küche mit dem darüber liegenden Arbeitszimmer ist die grau gebeizte Eichenwand. Das Arbeitszimmer bildet gleichzeitig einen freundlichen Übergang zu den darüber liegenden Räumen.
Luxuriöse Anmutung wie in einem Hotel
Denn dieses gleiche Grau setzt sich im Wohnzimmer fort, allerdings in Form einer Stoffwandverkleidung – wegen der Akustik. Hinter der drehbaren Bücherwand im Wohnzimmer ist ein weiterer Bereich versteckt, der zum Lesen oder Entspannen einlädt und in ein beruhigendes Blau getaucht ist.


Die Gestaltung der Schlafräume im Obergeschoss strahlt Komfort und luxuriöse Anmutung wie in einem Hotel aus. Das Hauptschlafzimmer mit seiner originellen Dachkonstruktion ist vom Badezimmer durch einen Bauteil getrennt, das sowohl das Treppenhaus als auch die Nasszelle mit Duschbereich umschließt.


Die Duschwände sind mit zweiseitigen Spiegeln ausgestattet, die einen direkten Blick auf die Kanäle ermöglichen. Das angrenzende Badezimmer verfügt über eine traditionelle japanische Badewanne und ein dazu passendes freistehendes Waschbecken, beide aus Holz.

i29 ist ein preisgekröntes Büro für Innenarchitektur und Design. Den Architekten ist es ein Anliegen, in einer zunehmend digitalen Welt die „physischen Erfahrungen um uns herum” klar, einfach und dennoch überraschend zu gestalten.
„Orte mit einer starken Identität”
In Zusammenarbeit mit den Kunden entwerfe man „Orte mit einer starken Identität”, wie es heißt. Die Renovierung denkmalgeschützter Gebäude biete eine Gelegenheit, Elemente aus der Vergangenheit wiederzuverwenden und sie in die Gegenwart zu bringen.
Text: Linda Benkö Fotos: Ewout Huibers, Azhar J & Javier M / unsplash
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