Sanfte Neukalibrierung des Erbes
Im Fürstentum Liechtenstein, wo die Alpenlandschaft seit Jahrhunderten von einer tief verwurzelten Baukultur geprägt ist, bringt der Bau eines neuen Hauses im Jahr 1837 eine architektonische Zäsur mit sich. Es ist das Hagenhaus in Nendeln, in der historischen Feldkircher Straße, das einst als K&K-Postexpeditionsstelle an der wichtigen Poststrecke Lindau–Mailand diente. Dieses klassizistisch gestaltete Doppelwohnhaus ist das erste Beispiel für eine in Liechtenstein damals neue Architekturrichtung. Mit seiner strengen Symmetrie und seinem weißen Kalkputz durchbrach es die stark traditionsbehaftete Architekturlandschaft seiner Zeit. Errichtet von Baumeister Joseph Anton Seger, manifestierte sich darin eine neue bürgerliche Haltung, die in Sandsteinfassungen für Fenster und Türen sowie in einem eleganten Vollwalmdach ihren Ausdruck fand.
Jahrzehntelang zeugte die Anlage, bestehend aus Wohnhaus, Stallscheune, Waschhaus und Schützenhäuschen, von einer vielfältig gemischten Nutzung. Neben dem Wohnhaus samt Poststelle gab es am Standort auch noch eine kleine Landwirtschaft und einen Schützenverein. Als das Hagenhaus im Jahr 1988 unter Denkmalschutz gestellt wurde, war dieser historisch und kulturell wertvolle Bestand für die Zukunft gesichert. Er gilt bis heute als die wohl am besten erhaltene Hofanlage in Liechtenstein aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ein Ort für den Musikernachwuchs
Finanziert mit weitgehend privaten Mitteln und auf Initiative des gemeinnützigen Vereins Pro S' Hagen Huus z'Nendla erfolgte 2020 der Spatenstich für die Revitalisierung der Hofstätte. Das vielfach gewürdigte architektonische Unterfangen bestand in der behutsamen Neukalibrierung des Ensembles. Anstatt das historische Erbe starr zu konservieren und damit zu einem reinen Objekt der Betrachtung zu machen, sollte der Bestand neu genutzt und belebt werden.
Aufgabe des Büros Cukrowicz Nachbaur Architekten war es, das Hagenhaus für die Internationale Musikakademie Liechtenstein zu adaptieren. Auf diese Weise sollte dieses baukulturelle Zeugnis der liechtensteinischen Geschichte zu einem modernen Ort der Kultur und zu einer Ausbildungsstätte für hochbegabten Musikernachwuchs werden. Das einstige Doppelwohnhaus mit seinen aufwendig bemalten Wänden und den historischen Kachelöfen blieb in Funktion und Atmosphäre erhalten. Es dient nun als Übernachtungs- und Übungszimmer für Musikstudenten, während der Dachboden zum Professorenloft wurde.
Vom Stall zur Konzertbühne
Der radikalste, aber dennoch sehr respektvolle Eingriff erfolgte an der Stallscheune. In ihrer voluminösen Form zeugte sie einst von intensiver Landwirtschaft und lieferte die besten Voraussetzungen, um zum Konzertsaal für Kammermusik adaptiert zu werden.
Die historischen Holzverschalungen der Fassade hat man durch verstellbare Holzlamellen neu interpretiert. Dies ist der Brückenschlag, den die Architektur hier immer wieder sucht: eine visuelle Verbindung zum Bestand, die gleichzeitig eine neue Offenheit und Transparenz schafft.
Sämtliche Gebäude sind charakterisiert durch eine einheitliche Materialsprache und gruppieren sich um einen Hofplatz als gemeinsame Mitte.
Cukrovicz Nachbaur Architekten
Das einstige Waschhaus dient jetzt als Wohnraum, während das Schützenhäuschen zum Veranstaltungsraum geworden ist. Die Ergänzung des Ensembles durch das neue Hofhaus, fertiggestellt im Jahr 2024, ist der finale Schritt in der Neuordnung. Es ist das gemeinschaftliche Zentrum der Hofstätte.
Dieser Neubau übernimmt die zentralen Foyer- und Servicefunktionen und bietet einen gemeinschaftlichen Aufenthaltsraum. „Sämtliche Gebäude sind charakterisiert durch eine einheitliche Materialsprache und gruppieren sich um einen Hofplatz als gemeinsame Mitte“, heißt es vonseiten Cukrowicz Nachbaur Architekten.
Dialog zwischen Alt und Neu
Diese einheitliche Materialsprache verbindet Alt und Neu und sorgt dafür, dass sich das 19. und das 21. Jahrhundert auf einen gemeinsamen Nenner verständigen. Es ist ein kohärenter Dialog, der das Holz als Brücke zur Natur und zur Geschichte des Ortes etabliert. Die Neugestaltung der Freiräume durch unterschiedliche Gartenthemen verknüpft die gesamte Anlage zusätzlich mit dem umgebenden Landschaftsraum.
Durch das behutsame Transformieren des Bestands – sowohl in baulicher Hinsicht als auch in seiner Nutzung –, haben die Architekten den Charakter des Ortes bewahrt und ihn in einen neuen Kontext gesetzt. So atmet das geschichtlich bedeutsame Hagenhaus weiter, aber nun im Takt der Kammermusik.
Text: Gertraud Gerst Fotos: Dominic Kummer und Adolf Bereuter für Cukrowicz Nachbaur Architekten
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