Kunst im Getreidespeicher

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Im Backstein steckt eine ordentliche Portion Drama, wie Architekten aus Shanghai bewiesen haben. In einer monumentalen Formensprache verwandelten sie zwei verfallene Getreidespeicher in den neuen Kunsttempel TaoCang Art Center.

Die geometrische Strenge mit den monumentalen Fluchten lässt den Menschen hier etwas klein aussehen. Doch bevor er Gelegenheit hat, sich in dem Bauwerk zu verlieren, entdeckt er die subtile Verspieltheit und die zahlreichen Referenzen an das architektonische Erbe des Ortes. Drehbare Backsteinpaneele, die die Hochgeschlossenheit des Atriums durchbrechen. Inszenierte Verfallsspuren, die wie Narben scheinbar die Fassade aufbrechen. Als hätten die Backsteine in ihrer makellosen Rundung der Oberflächenspannung nachgegeben. Die Architekten hinter dem TaoCang Art Center haben hier aus alter und neuer Substanz ein Gesamtbauwerk geschaffen, das beides gleichzeitig schafft: spannungsgeladene Dualität und feinsinnige Einheit.

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Die Architekten von Roarc Renew setzen den Backstein monumental in Szene.

Landmark ohne Machtanspruch

Überall manifestiert sich diese Wechselbeziehung der Gegensätze: zwischen dem Überdimensionalen und dem Detail, zwischen Perfektion und Bruch, zwischen alt und neu, zwischen nah und fern. Das Büro Roarc Renew hat sich, wie der Name schon verrät, auf Erneuerungsprojekte spezialisiert. Statt im urbanen Ballungsraum bekamen die Architekten diesmal den Auftrag, zwei verfallenen Getreidespeichern in der ostchinesischen Stadt Jiaxing ein Makeover zu verpassen. Aber nicht nur das. Der Eigentümer wollte hier ein Kunstmuseum errichten, das als neue Landmark schon von weithin sichtbar sein sollte.

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Minimalistischer Backstein trifft im TaoCang Art Center auf monumentale Formensprache.

Roarc Renew möchte Empathie in die Arbeit bringen. Landmarks wurden zu oft dafür benutzt, einen Machtanspruch zu verkörpern.

von Roarc Renew, Architekten

Eine Vorgabe, die nach Abschluss der Bauarbeiten 2020 als erfüllt angesehen werden kann. Luftaufnahmen zeigen die charakteristische Form des neuen TaoCang Art Centers ebenso wie Landschaftsaufnahmen aus dem sumpfigen Vorstadtgebiet. Dabei ist den Architekten die Unterscheidung zu rein repräsentativen Landmarks wichtig. Der Anspruch, den sie an die Architektur erheben, basiert auf Gefühl und zwischenmenschlicher Nähe. „Architektur lebt die Zuneigung zum Menschen und Roarc Renew möchte Empathie in die Arbeit bringen. Landmarks wurden zu oft dafür benutzt, einen Machtanspruch zu verkörpern.“

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Das Atrium am Ende der Korridore ist nach oben hin offen und schafft so eine vertikale Achse.
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Die geometrische Formensprache ist auf das Wesentliche beschränkt.

Eine Frage der Energie

Dass der Backstein in der Architektur gerade ein Revival erlebt, beweist die neue Kulturscheune Berlins ebenso wie die Tel Aviv Arcades von Studio Precht. Für ihren Entwurf setzten sich die Architekten nicht nur mit der formalen Architektur der alten Backsteinbauten auseinander, sie beleuchteten auch den soziokulturellen Background des Ortes und seiner Bewohner. Jedem Bauwerk wohne eine ganz eigene Energie inne, die es für die Architekten zu erkennen gilt.

Der Kern jeder Erneuerung besteht darin, den inneren Flow zu finden und ihm zu folgen.

Robben Bai, Architekt und Gründer von Roarc Renew

„Wir sind der Überzeugung, dass die maßgebliche Eigenschaft eines Erneuerungsprojekts darin besteht, mit dem ursprünglichen Energiefeld des Bauwerks zu korrelieren“, erklärt Robben Bai, der Gründer von Roarc Renew. „Der Kern jeder Erneuerung besteht darin, den inneren Flow zu finden und ihm zu folgen.“

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Architektur, die begleitet

Die Symmetrie der Getreidespeicher, die auf einer Ost-West-Achse, direkt vor einem großen Lotusteich liegen, brachten die Architekten zur Idee einer „begleitenden Architektur“. Zwei symmetrische Korridore sollten den Altbestand an den Längsseiten begleiten und das Eingangslayout des Geländes vorgeben. Sie dienen nicht nur als erweiterbarer Ausstellungsraum des Museums, sondern auch als kommerzieller und sozialer Raum für sich.

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Drehbare Fassadenpanneele bringen ein verspieltes Element in das strenge Formenkonzept.

Das räumliche Arrangement richtet sich laut Entwurf nach unterschiedlichen Energiefeldern. Die begleitende horizontale Achse auf der einen Seite und die vertikale Achse auf der anderen. „Die Zwillingskorridore steigen kontinuierlich an. Ihr Peak befindet sich im hohlen, ruhigen Raum in der Mitte, wo die architektonischen Emotionen ihren Höhepunkt erreichen“, heißt es in der Projektbeschreibung.

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Der Neubau schmiegt sich sanft um die alten Getreidespeicher.

Ornament mit Funktion

Die Architekten nennen das Wasserableitungssystem als bedeutendstes stilistisches Element des neuen Kunsttempels. Statt in einer Rinne wird das Regenwasser über die scheinbaren Bruchstellen in der Fassade zum Boden geleitet. Die Ziegel ragen hier aus dem Mauerwerk heraus und geben den Weg des Wassers vor. „Das wichtigste Ornament der Struktur ist die stille Integration des Wassers in die Sprache der Backsteine“, erklärt Robben Bai.

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Inszenierte Bruchstellen: Die Wasserableitung ist skulptural in die Fassade integriert.

Das wichtigste Ornament der Struktur ist die stille Integration des Wassers in die Sprache der Backsteine.

Robben Bai, Architekt

Ein weiteres Ornament befindet sich auf der Außenseite des hohen Atriums. Hier erinnert eine Weizenähre in Form eines dreidimensionalen Mosaiks an die Getreidelager vergangener Tage.

Text: Gertraud Gerst Fotos: Wen Studio

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