Eine Stadt setzt die Segel

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In der französischen Stadt Rouen entsteht ein neues Kongresszentrum nach den Plänen von Bjarke Ingels Group. Der monumentale Bau The Sail soll die Stadt wieder näher an das Flussufer der Seine rücken. Wie für öffentliche Bauten in Frankreich vorgeschrieben, wird es ein Holzbau.

Die Stadt Rouen in der Normandie ist wie ein offenes Geschichtsbuch. Die berühmten Fachwerkhäuser erzählen vom Leben im Mittelalter, die gotischen Turmspitzen der Kathedrale von der kirchlichen Vergangenheit der Stadt. Die Seine – die Lebensader, die sie durchquert – zeugt von der maritimen Tradition, die umtriebige Händler und Entdecker hervorgebracht hat. Lange Zeit jedoch schien diese Beziehung zum Flussufer gestört, überdeckt vom urbanen Lärm des modernen Industriezeitalters. Genau an dieser Schnittstelle, zwischen dem Ufer und der abtrünnigen Stadt, setzt die architektonische Intervention von Bjarke Ingels Group (BIG) an: Das geplante Kongresszentrum, das den passenden Namen The Sail trägt, soll die historische Hafenstadt wieder spürbar mit ihrer Wasserfront verbinden.

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Das skulpturale Dachtragwerk aus Holz bestimmt die Innenräume des geplanten Kongresszentrums.

Der Entwurf für das 11.500 Quadratmeter große Bauwerk entspricht ganz der Vision des öffentlichen Auftraggebers Métropole Rouen Normandie. Dieser Vision zufolge soll das neue Zentrum zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Katalysator werden und in seiner Formensprache aus der Geschichte und der Natur des Ortes schöpfen. Ein Anspruch, auf den das dänische Architekturbüro mit einem klaren Dialog zwischen Material und Form reagiert.

Transparenter Holzbau in organischer Form

In Anlehnung an das historische Bild Rouens, dessen Stadtkern von der historischen Fachwerk-Architektur geprägt ist, entschieden sich die Architekten für die Holzbauweise. Lange, schlanke Holzstützen und großzügige Glasflächen übersetzen die baukulturelle Tradition in eine transparente, zeitgenössische Ästhetik.

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An der Uferseite zieht The Sail einen selbstbewussten Schwung über die Flusslandschaft.

Die sichtbare Holzkonstruktion im Inneren vermittelt ein sensorisches Erlebnis und verleiht dem großen Volumen einen menschlichen Maßstab und unerwartete Behaglichkeit. Das Bekenntnis zu Holz als Brücke zur Natur ist ein Leitmotiv der modernen, ökologisch verantwortungsvollen Baukultur.

The Sail erhebt sich entlang der Seine und verleiht Rouen mit seiner geschwungenen Dachlinie eine neue Silhouette, die eine Hommage an das maritime Erbe der Stadt und die historische Skyline mit ihren Kirchtürmen ist.

Jakob Sand, Architekt

Die kühnste Geste des Entwurfs ist zweifellos das organisch geformte Dach. Während es an der Uferseite einen selbstbewussten Schwung über die Flusslandschaft zieht, bildet es an der Vorderseite sechs wellenförmige Bögen aus.

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Laut BIG handelt es sich beim Dach um eine energieerzeugende und wasserwirtschaftliche Systemfläche. Die integrierten Photovoltaik-Elemente liefern Energie, die stilisierten Segel sammeln das Regenwasser.

„The Sail erhebt sich entlang der Seine und verleiht Rouen mit seiner geschwungenen Dachlinie eine neue Silhouette, die eine Hommage an das maritime Erbe der Stadt und die historische Skyline mit ihren Kirchtürmen ist“, sagt Architekt Jakob Sand von BIG.

Holz ist bei öffentlichen Bauten Pflicht

Die sichtbare Holzkonstruktion im Inneren von The Sail zeigt die Lastabtragung in Aktion und ist zugleich ein Bekenntnis zu biophiler Materialintegrität. Sie zeigt, dass monumentale Architektur und eine ökologische Bauweise keine Widersprüche sein müssen. Nachdem BIG für sein neues Hauptquartier in Kopenhagen – wegen seiner Bauweise als „Betonbunker“ tituliert – viel Kritik einstecken musste, setzt das Büro seither verstärkt auf den modernen Holzbau.

Bei diesem Projekt in Frankreich spielte bei der Wahl des Baustoffes wohl auch die Vorgabe der französischen Regierung mit. Demnach müssen seit 2022 alle neuen öffentlichen Gebäude zu mindestens 50 Prozent aus Holz oder anderen naturbasierten Materialien bestehen.

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Seit 2022 müssen in Frankreich alle neuen öffentlichen Gebäude zu mindestens 50 Prozent aus Holz oder anderen naturbasierten Materialien bestehen.

Bei Gebäuden mit mehr als acht Stockwerken schreibt die Regelung vor, dass die Tragkonstruktion sogar vollständig aus Holz bestehen muss.Dies zeigte sich unter anderem bei den Neubauten, die anlässlich der Olympischen Spiele 2024 in Parisentstanden.

Das Dach als lebendige Haut

Mit dem neuen Kongresszentrum strebt man eine Passivhaus-Zertifizierung an, was eine neue Benchmark für energieeffiziente öffentliche Bauten in Frankreich setzen soll. Das skulpturale Dach mag nach einer großen, rein ästhetischen Geste aussehen, ist aber mehr als das. Laut BIG handelt es sich um eine energieerzeugende und wasserwirtschaftliche Systemfläche. Während die dachintegrierten Photovoltaik-Elemente saubere Energie liefern, sammeln die stilisierten Segel das Regenwasser, das zur Bewässerung der bepflanzten Zonen auf dem Vorplatz dient.

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Die auskragenden Vordächer schaffen geschützte Außenbereiche.

Die Nachhaltigkeit von The Sail wird damit zum integralen Bestandteil der Architektur, wie der Architekt erklärt: „Errichtet in konstruktiver Holzbauweise, mit Tageslicht-optimierten Innenräumen und einem Energie-erzeugenden Dach ist es umweltschonende Infrastruktur und kulturelles Zentrum in einem. Ein inklusiver Raum für Rouen und seine Besucher."

Zurück zur ursprünglichen Lebensader

Im Inneren entfaltet sich das Kongresszentrum um ein geräumiges, lichtdurchflutetes Foyer. Es bildet den sozialen Dreh- und Angelpunkt des Gebäudes. Die überlappenden Ebenen und eine großzügige Haupttreppe schaffen dabei Sichtbezüge zwischen den unterschiedlichen Programmbereichen, von den multifunktionalen Tagungsräumen bis hin zum Hauptauditorium.

Mit der neuen Landmarke am Flussufer von Rouen möchte man die stadtplanerischen Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen und die lädierte urbane Ökologie ein Stück weit heilen. So soll The Sail die Stadt wieder dorthin steuern, wo einst seine kulturelle und wirtschaftliche Lebensader pulsierte: zurück an den Fluss.

Text: Gertraud Gerst Visualisierungen: Atchain, BIG

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