Ein Dorf erfindet sich neu

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Wo einst Vieh in der Scheune stand, ist ein gemeinschaftliches Zentrum entstanden. Die Verwandlung eines historischen Bauernhofs in die Bücherei Gundelsheim ist ein Vorzeigebeispiel für den modernen Holzbau und die Belebung des Dorfkerns.

Es ist ein bekanntes Phänomen postmoderner Stadtplanung: die Flucht aus dem Zentrum. Über Jahrzehnte hinweg breitete sich die Peripherie aus wie ein Hefeteig, während die Ortskerne vieler kleiner und mittelgroßer Gemeinden leerliefen. Die historische Substanz verblasste und die einst pulsierenden Hauptstraßen verkamen zu bloßen Durchfahrtsrouten. Mittlerweile gibt es wirksame Initiativen und Impulse, um die Ortskerne wieder zu stärken. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Bauen im Bestand zu. Ein vielfach prämiertes Vorzeigeprojekt ist in der oberfränkischen Gemeinde Gundelsheim entstanden.

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Vorher: Der ortsbildprägende Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert stand über Jahre leer.
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Nachher: Durch die Erweiterung des Ensembles entstand die Bücherei Gundelsheim.

Galt der Ort einst als „Schlafdorf“ für Berufspendler, so hat sich in den letzten Jahren dank Städtebauförderung und Bürgerbeteiligung ein grundlegender Wandel vollzogen. Der jüngste und wohl wirkmächtigste Akzent in diesem städtebaulichen Revitalisierungsprozess ist die neue Gemeindebücherei.

Vom Bauernhaus zur Bücherei

Die Architekten des Büros Schlicht Lamprecht Kern standen vor der Aufgabe, ein leerstehendes Bauernhaus samt Stall aus dem 18. Jahrhundert für eine neue, öffentliche Nutzung fit zu machen. Die Herausforderungen waren die klassischen: niedrige Raumhöhen, eine statisch geschädigte Struktur und die vielfältigen Anforderung, ein großes Büchersortiment sowie flexible Flächen für Veranstaltungen unterzubringen.

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Die drei Baukörper folgen dem Haus-im-Haus-Prinzip. Ein eingestelltes Volumen sorgt jeweils für Zonierung.

Der Entwurf, der 2016 aus einem Wettbewerb, der bewusst auch jüngeren Büros eine Chance bot, siegreich hervorging, feiert die Typologie des fränkischen Bauernhausensembles: „Haus – Stall – Scheune. Diesen Dreiklang wollten wir wiederherstellen, die gewohnten Bilder aufnehmen, mit authentischen und natürlichen Materialien arbeiten. Das Besondere liegt hier im Einfachen“, erklären die Architekten gegenüber dem Portal german-architects.com.

Ein Haus in jedem Haus

Als Anfang der 2000er-Jahre die Scheune des historischen Ensembles abgerissen wurde, hinterließ dies eine Lücke, die man im Zuge der Umnutzung nun wieder geschlossen hat. Das ortsbildprägende Bauernhaus bleibt nicht nur erhalten, der neue Holzbau vervollständigt die traditionelle Typologie und schreibt sie gestalterisch weiter. An das einstige Wohnhaus schließen nun zwei giebelständige Volumen an, wobei sich eines davon über den alten Stall gestülpt hat.

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Das ortsbildprägende Bauernhaus bleibt nicht nur erhalten, der neue Holzbau vervollständigt die traditionelle Typologie und schreibt sie gestalterisch weiter.

Auf diese Weise entstand ein Haus im Haus, das eine praktische Zonierung schafft und die Jugendbibliothek vom Lesecafé trennt. Das mit einem weißen Schlämmputz versehene Mauerwerk und die preußische Kappendecke lassen die Geschichte atmen, wo Jugendliche die Welt in Büchern entdecken.

Haus – Stall – Scheune. Diesen Dreiklang wollten wir wiederherstellen. Das Besondere liegt hier im Einfachen.

Schlicht Lamprecht Kern Architekten

Ein zweites Haus im Haus ist im ehemaligen Wohngebäude entstanden, das man komplett entkernt hat. Statt der kleinteiligen Zimmer mit den niedrigen Decken tritt nun ein offenes Volumen zutage, in dem die Kinderbibliothek als maßstabgerechtes kleineres Volumen eingepasst ist. Damit ergibt sich nicht nur ein Ort, der Geborgenheit vermittelt, sondern auch eine Struktur zur baulichen Ertüchtigung. Der Stahlrahmen des Kinderhauses dient der Aussteifung des beschädigten Bestands.

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Der alte Stall wurde weiß geschlämmt und beherbergt nun die Jugendbibliothek, an die das Lesecafé anschließt.

Auch im Hauptraum der Bücherei findet sich dieses Haus-im-Haus-Motiv wieder. Der Ausleihbereich samt Nebenräumen ist hier ebenso als eigener Baukörper in charakteristischer Scheunentypologie eingefügt. An der unterschiedlich durchlässigen Holzfassade lässt sich diese räumliche Aufteilung auch von außen ablesen.

Wahrung des baukulturellen Erbes

Die Architekten schufen eine spannende Fassadenstruktur aus Holzlatten, die dem Gebäude eine zeitgemäße Erscheinung verleihen. Zugleich verweisen Material und Form auf die landwirtschaftliche Vergangenheit, während die subtile Transparenz das neue, öffentliche Programm kommuniziert. Der Haupteingang, leicht versetzt aus der Mittelachse, ist eine moderne Interpretation der klassischen Scheunen-Einfahrt.

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Im historischen Bestand dient das Kinderhaus als stützende Struktur für die geschädigte Substanz.

Die Nutzung der neuen Gemeindebücherei geht weit über konventionelle Begriffe hinaus. Gemäß dem Wunsch von Bauherrschaft und Bürgern, sie als „Kulturort und Integrationsschmiede“ zu etablieren, hat man die Räume flexibel gestaltet. Unter anderem haben die Architekten dafür eigene Regale auf Rollen entworfen. „Sie können leicht verschoben werden, und der große Scheunenraum wurde so bereits für Lesungen, Theateraufführung, Neujahrsempfang und Gemeinderatssitzungen genutzt“, erzählen die Architekten.

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Mehr als nur eine Bücherei: Hier finden regelmäßig Lesungen, Theateraufführungen und Gemeinderatssitzungen statt.

Damit ist die Bücherei Gundelsheim zu einem Modell für die Belebung von Ortsmitten geworden. Der Bauen im Bestand-Preis der Bayerischen Architektenkammer bestätigt, dass die behutsame, aber konsequente architektonische Strategie aufgegangen ist.

Das bestätigen auch die Menschen, für die die Bücherei bereits seit fünf Jahren ein wichtiger Treffpunkt des dörflichen Lebens ist. Die Dorferneuerung am Leitenbach zeigt exemplarisch, wie wichtig es ist, nach dem städtebaulichen Fokus auf den Autoverkehr den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Text: Gertraud Gerst Fotos: Stefan Meyer

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