Die verborgene Moderne wird sichtbar

Blick in einen Ausstellungsraum des Leopold Museums mit Gemälden an den Wänden.
Sehenswert. Den vielfältigen okkulten wie reformerischen Subkulturen, die um 1900 in Wien zugegen waren, widmet das Leopold Museum erstmals eine umfassende Überblicksschau und stellt dabei auch Bezüge zur Gegenwart her.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Materialismus, Industrialisierung und Verstädterung zunehmend kritisiert. Frei nach der von Rainer Maria Rilke formulierten Maxime „Du musst dein Leben ändern!“ sehnten sich immer mehr Menschen nach einem Dasein in engerer Verbundenheit mit der Natur und nach neuen Formen der Spiritualität. Diese um 1900 neu gefundene Faszination für das Okkulte beleuchtet das Leopold Museum in Wien in einer großen Schau.

Eine junge Frau mit Kopftuch liegt mit einer Taschenuhr in ihren Händen im Bett.

Gabriel von Max, „O Mensch! Gib Acht!“, 1900–1915.

Viele Facetten

Die in Themenbereiche gegliederte Ausstellung vereint rund 180 Werke von ca. 85 Künstler*innen und spannt einen Bogen von den 1860ern bis in die 1930er. Zwei große Neuerer der Gründerzeit, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, begleiten als Leitfiguren die Ausstellung. Darüber hinaus sind Fotografien, Plakate, Bücher, Manuskripte sowie Anschauungsobjekte wie Turngeräte und Kleidung zu sehen.

Ein nackter Mann steht auf einem Berg, über dem sich Wolken und das Meer erstrecken.

Nackter Jüngling am höchsten Gipfel: Ferdinand Hodler malte 1903/04 den „Blick ins Unendliche III“.

Eine Frau in einem roten und blauen Kleid tanzt vor einem gelben Hintergrund.

Gelöstheit des Tanzes: Studie zu „Fröhliches Weib“ von Ferdinand Hodler, um 1911.

Neue Ausdrucksformen

Der Okkultismus um 1900 brachte u. a. erste Ideen der Selbstermächtigung und „Höherentwicklung“ hervor. Im Zentrum stand ein neues Körperbewusstsein, gepaart mit der Begeisterung für Natur und Alpinismus. Künstlerisch veranschaulicht das etwa Ferdinand Hodlers Bild „Blick ins Unendliche III“. In der Gestalt eines nackten Jünglings symbolisiert es den „Neuen Menschen“, der gleichsam über das Irdische hinauswächst. Mit Gemälden wie diesem lädt die Ausstellung zur Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Seins ein. Viele Künstler*innen der frühen Moderne fanden um 1900 zu neuen Ausdrucksformen und Maltechniken: Während Edvard Munch, Oskar Kokoschka und Egon Schiele ihre Menschendarstellungen etwa um eine auratische Dimension erweiterten, führte das okkultistische Denken Wassily Kandinsky, František Kupka oder Johannes Itten in die Abstraktion.

Ein Gemälde im Leopold Museum.

František Kupka, „Essai Robustesse“, 1920.

Ein Mann sitzt in einem Sessel, während eine geisterhafte Gestalt hinter ihm steht.

Adolf Ost, „Geistererscheinung“, vor 1864.

Parallelen ins Heute

Die Schau beleuchtet die reformerische Suche nach Auswegen aus den Krisen und Verwerfungen der Moderne in Kunst und Gesellschaft – eine Suche, die Parallelen zu unserer heutigen, ebenfalls nach Alternativen fragenden Zeit erkennen lässt. Zugleich werden die dunklen Seiten und Widersprüche nicht ausgespart.

So verband die Theosophie ihr Ideal universaler Menschenverbrüderung mit einer Rassentheorie, die die „arische Rasse“ als höchste einstufte. Auch frühe ökologische Ansätze prägten die Reformbewegung, doch in der völkischen Lebensreform schlug das Streben nach Naturschutz in die Abwertung und Diffamierung all dessen um, was dem vermeintlichen Volkscharakter widersprach. „Gerade in Wien wirft rechtsextreme rassistische Esoterik einen unübersehbaren Schatten auf diese Epoche“, so Ivan Ristić, Kurator der Ausstellung.

leopoldmuseum.org