Claus Oistric, Jahrgang 1981, bringt alle Voraussetzungen für einen authentischen Zugang zum Genre mit: Er hat ab Mitte der 90er verschiedene Fanzines (Fan-Magazine, Anm.) herausgegeben und spielt bis heute selbst Gitarre in mehreren Bands. „Die Idee zum Projekt kam während der Corona-Lockdowns. Da hatte ich endlich die Zeit, mein Archiv zu durchforsten“, erzählt er.
Intensive Recherche
Was folgte, war ein Jahr intensiver Arbeit, unter anderem für ausführliche Gespräche mit rund 20 Interviewpartnern, deren Aussagen und Zitate durch das Buch führen. Warum eigentlich gerade die 90er-Jahre – schließlich gab es Punk in Wien spätestens seit Anfang der 80er?
Oistric: „Einerseits gab es in den 1990ern mehr Bands als zuvor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erstmals auch die Möglichkeit, im nahen Ausland aufzutreten, andererseits hat es mit meiner eigenen Biografie zu tun.“
Wobei der erzählerische Bogen in „Als der Vorhang fiel – Punk im Wien der 90er“ ohnehin lange vor dem beschriebenen Jahrzehnt beginnt: „Wäre die Geschichte von Punk in Wien eine moderne Netflix-Serie, dann wären die 90er wahrscheinlich bereits die dritte oder gar vierte Staffel“, eröffnet Oistric sein Buch und fährt mit einem kurzen Rückblick auf die „ersten Staffeln“, also die Ursprünge der Wiener Punk-Historie fort: Geschichtsträchtige Locations, wie die Wiener Arena, und legendäre Bands, wie „Chuzpe“, „Mordbuben AG“, die Frauen-Punkband „A-Gen 53“ (benannt nach einem damals beliebten Verhütungsmittel) oder die „Dead Nittels“ werden kurz gestreift.
Ausführlicher und aus verschiedenen Blickwinkeln wird natürlich das im Zentrum stehende Jahrzehnt betrachtet: Der Rundumblick (in Kapiteln) reicht von einer kritischen Liebeserklärung an die Bundeshauptstadt als Szene-Schauplatz („Wien, du tote Stadt“) über die Reaktionen der heimischen Politik und Gesellschaft auf die Punk-Bewegung („Pflichterfüller und Totalverweigerer“) bis zu den (im Rückblick gescheiterten) Versuchen, Punk auch in die ländliche Idylle der Bundesländer zu exportieren („Von Wien in die Provinz und zurück“).
Wobei vor allem Letzteres die ambivalente Rolle der Wiener Punk-Szene aufzeigt: Wer (wie etwa Buchautor Oistric) aus dem beschaulichen Hainburg an der Donau (NÖ) nach Wien kam, nahm das Geschehen natürlich ganz anders und ungleich größer wahr als jene, die zuvor schon mit Punks in Berlin oder Hamburg in Kontakt waren.
Besetzte Häuser
Nichtsdestotrotz gab es in Wien Locations und Bands, an die man sich auch dreißig Jahre später noch erinnert: Dazu zählten bis zu ihrer Räumung die (ehemals) besetzten Häuser in der Aegidi- und Spalowskygasse sowie das autonome Beisl „Rotstilzchen“ in der Margaretenstraße, später der „Terrassinger“ auf der Wienzeile sowie die bis heute bestehenden Lokale „Flex“ (damals noch in Meidling) und „K.u.k.u.“.
Und natürlich das „EKH“ in Favoriten – das damals der Kommunistischen Partei gehörende und weitgehend leer stehende „Ernst Kirchweger Haus“, das 1990 von autonomen Aktivisten besetzt wurde und seither der Szene als Wohn-, Probe- und Auftrittsort dient.
Zu den angesagten Punk-Bands dieser Zeit zählten „Kulta Dimentia“, die auch Auftritte in den damals eben erst entstandenen neuen deutschen Bundesländern hatten, „Those Who Survived The Plague“, „Programm C“, „Extreme“ die „Subversiven Simmeringer“ oder „Pot-Sche-Mu“.
Zur Präsentation von Oistrics Buch kamen Anfang Oktober dieses Jahres viele der damaligen Akteure in der Wiener Arena zusammen. Eine Häufung von Irokesenschnitten („Iros“) gab es freilich nicht mehr: Sowohl im Publikum als auch auf der Bühne (zur Feier des Tages spielten u. a. „Programm C“, „Extreme“ und „Brambilla“) sah man eher in Ehren ergraute Menschen. Schön laut war es trotzdem.
Claus Oistric: „Als der Vorhang fiel – Punk im Wien der 90er“
Verlag Glitzer & Grind, 177 Seiten, 22 Euro
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