Die Caritas warnt: Wiens Obdachlose werden immer jünger

Sie sitzt auf dem Bett, auf dem sie vier Wochen lang unruhig geschlafen hat. Es hatte zuvor einen heftigen Streit gegeben. Erzählt die 16-Jährige. Für das Foto zieht sie ihre Kapuze über den Kopf. Aus Scham, auch aus Angst vor ihren Eltern.
„Meine Mutter hat mir verboten, einen Freund zu haben“, sagt Klara, die ganz anders heißt, aber gerne Klara heißen würde.
Ihre Eltern hätten sie – nicht zum ersten Mal – laut angebrüllt, dass Nachbarn die Polizei um Hilfe riefen. Es waren dann die Polizisten, die ihr dringend dazu rieten, in der Jugendnotschlafstelle a_way für einige Zeit eine nächtliche Bleibe zu suchen.

Kurzfristig finden wohnungslose Kinder und Jugendliche im a_way einen sicheren Schlafplatz.
Der Sandler war einmal
Die 16-Jährige ist eine von 5.000 Wiener Kindern und Jugendlichen, die laut Klaus Schwertner von der Caritas Wien kürzer oder länger wohnungslos sind. Die Zahl sei speziell in der Pandemie weiter angestiegen. Woraus sich ergibt: „Rund ein Drittel der Obdachlosen in Wien sind jünger als 30 Jahre alt.“
Das Phänomen ist nicht neu, berichtet Tom Adrian, der die Jugendnotschlafstelle a_way im 16. Bezirk leitet. Im öffentlichen Bewusstsein ist dieses Problem allerdings noch nicht angekommen: Reden wir vom klassischen Wiener Sandler, trägt der einen ungepflegten Bart, und seine Haare sind ergraut.
Armut: In Österreich sind 344.000 Kinder und Jugendliche armutsgefährdet, 79.000 sind von Armut betroffen.
5.000 Wiener Jugendliche leben laut Caritas seit der Pandemie in ungeregelten Wohnverhältnissen.
Spendenkonto: Erste Bank, IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560, Kennwort: Hilfe für wohnungslose Jugendliche.
„Wohnungslosigkeit ist kein persönliches Scheitern der jungen Leute“, betonen Adrian und Schwertner. Auch Klara konnte sich den Vater und die Mutter nicht aussuchen: „Seit drei Jahren stellen sie mich öfters zur Rede“, gibt die 16-Jährige Einblicke in ein Elternhaus, in dem für sie kein Gefühl von Geborgenheit aufkam.
„Die Jugendlichen, die zu uns kommen, tragen schon einen immens schweren Rucksack auf ihrem Rücken“, weiß Maresi Kienzer, die das Wohnhaus der Jungen Caritas leitet. „Und nicht immer – so ehrlich muss man sein – können wir ihnen die ganze Last abnehmen.“
Weil amtliche Zahlen zu den jungen Wohnungslosen in Österreich fehlen, haben die Mitarbeiter der Caritas die eigenen Aufzeichnungen genauer durchgesehen. Ihre Ergebnisse geben Anlass zur Besorgnis: Nur die Hälfte all jener, die einmal in einer Notschlafstelle übernachten mussten, schafft es zurück in eine geregelte Wohnform.

„Wir sehen junge Menschen, die sich vor ihrem 18. Geburtstag fürchten“, erzählt Caritas-Direktor Klaus Schwertner.
Auch mehr Mädchen
In den Lebensläufen ihrer Klienten und Klientinnen zeichnen sich Muster für markante Einschnitte ab: mit Ende der Schulpflicht geraten viele so wie Klara in akute Gefahr. Die 16-Jährige hatte immerhin schon die Schule abgeschlossen und die Zusage für eine Lehre.
Der zweite Bruch ist rund um den 18. Geburtstag zu beobachten. „Wir sehen junge Menschen, die sich vor ihrem 18. Geburtstag fürchten“, erzählt Caritas-Direktor Klaus Schwertner nachdenklich.
Seit der Pandemie haben sich die Anfragen von Mädchen und jungen Frauen in den Jugendnotschlafstellen deutlich erhöht, der Anteil liegt heute bei 45 Prozent.
Im Fall von Klara gibt es ein bisschen Hoffnung: „Ich wohne jetzt wieder bei den Eltern“, sagt die 16-Jährige. Das Thema „Freund“ wurde bisher nicht angesprochen, ihr großer Traum schon: „Ich möchte gerne in eine eigene Wohnung ziehen.“
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