Vatikan: Eine Revolution der Barmherzigkeit

Es weht ein frischer Wind in Rom: Vatikan-Experten sehen guten Chancen, dass Papst Franziskus die „vom Marxismus gereinigte“ Befreiungstheologie rehabilitiert und ausgeschlossene Theologen zurückholt.
Kritik am Kapitalismus und am „in der Wurzel ungerechten“ globalen Wirtschaftssystem, Einsatz für Arme – das sind die Schlagwörter, mit denen Papst Franziskus seit Beginn seines Pontifikats immer wieder aufhorchen lässt. In seinem ersten apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ warnt der Papst diese Woche die Welt vor der Gefahr eines Aufstandes der Armen und Unterdrückten, die sich – zu Recht – gegen die herrschende ökonomische Ungerechtigkeit und Ausbeutung wehren werden.

Papst Franziskus hat das Problem auf eine neue Grundlage gestellt, nämlich auf die Basis eines starken sozialen Engagements für die Armen, für Leute in prekären Arbeitsverhältnissen und für moderne Sklaven der Gesellschaft“, beobachtet Buchautor Politi. Als Erzbischof von Buenos Aires habe Jorge Mario Bergoglio das eine „Theologie des Volkes“ genannt. Eine Theologie, die sich gegen soziales Ungleichgewicht engagiert, ohne jedoch zu Waffen zu greifen. Der Papst wolle natürlich nicht, so der langjährige Vatikan-Kenner, dass die Kirche und der Klerus politisch agierten. Unter Papst Johannes Paul II. und unter Papst Benedikt XVI. waren viele Befreiungstheologen vom Dienst suspendiert worden.
Che Bergoglio
Im September empfing Papst Franziskus den Vordenker der Befreiungstheologie, Gustavo Gutierrez, im Vatikan. Das missfiel vor allem konservativen Kreisen der Kurie. Unter seinen Gegnern wird der Papst seither angeblich „ Che Bergoglio“ genannt. Auch der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff setzt große Erwartungen in den „mitten im Volk stehenden“ Papst. Boff hofft, dass er viele „Befreiungstheologen, die in ungerechter Form bestraft worden sind, wieder rehabilitieren wird.“
„Themen wie Dritte Welt, solidarische Ökonomie sind ja Säulen der Befreiungstheologie. Papst Franziskus hat bei verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass es ihm um Liebe und Barmherzigkeit, jedoch nicht um Politik geht“, betont auch Franca Giansoldati. Für die Vatikan-Expertin der römischen Tageszeitung Il Messaggero gibt es viele Signale, dass sich Franziskus der „entpolitisierten“ Befreiungstheologie widmet. Es war vom ersten Auftritt des Papstes an klar, so Giansoldati, dass sein Engagement den Armen gilt. „Das sieht man jeden Tag bei seinen Predigten in der Frühmesse im Gästehaus Santa Marta, aber auch in vielen Botschaften bei Audienzen“, erzählt Giansoldati.
Der erste lateinamerikanische Papst pflegt einen ausgesprochen bescheidenen Lebensstil: Er isst in der vatikanischen Mensa, bewohnt nach wie vor zwei einfache Zimmer im Gästehaus und hat Staatslimousinen gegen kleine Pkws ausgetauscht.
Jorge Mario Bergoglio hat alle Anlagen zum Partycrasher. Vor dem ersten Adventsonntag ließ Papst Franziskus mit einer „Regierungserklärung“ aufhorchen, deren Sprengkraft im vorweihnachtlichen Lärm unterging. Für schnelle Schlagzeilen sorgte die Ankündigung eines radikalen Umbaus der Kirche, inklusive Reform des Papsttums.
Wer das ganze vielseitige Dokument liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Diese Wirtschaft tötet“ buchstabiert der Papst die gängige Gesellschaftskritik der katholischen Soziallehre drastisch neu: „Der Mensch wird als Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und wegwerfen kann.“ Ursachen dafür und für die weltweite Finanzkrise sind für ihn „die Ideologien, die die absolute Autonomie der Märkte verteidigen“ und „das Kontrollrecht der Staaten bestreiten“.
Franziskus lässt deutlich spüren, dass er seine Wurzeln in Lateinamerika hat. Seine Kritik nimmt Anleihe bei jenen „Befreiungstheologen“, die von Vorgängern noch mit Entzug der Lehrerlaubnis geächtet wurden. Der Papst predigt eine „vom Marxismus gereinigte“ Befreiungstheologie“, analysieren di „Vaticanisti“. Unter Gegnern soll er nur noch als „Che Bergoglio“ firmieren.
Nicht nur Freunde macht er sich auch mit der Botschaft für die eigenen Reihen, raus aus der bequemen Mitte, hin zu den Randexistenzen: „Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit krank ist.“
Frohbotschaft statt Drohbotschaft
Das aufsehenerregende Dokument trägt den Titel „Evangelii Gaudium“ , von der „Freude des Evangeliums“. Dieser Papst ist auch als Person für immer mehr Menschen ein Quell der Freude; weil er mit Frohbotschaften statt Drohbotschaften von sich reden macht; weil er für einen Kirche des Erbarmens und des Aufbruchs steht. „Viele, die ihn gewählt haben, haben ihn unterschätzt. Sie glaubten, einen barfüßig frommen Franziskaner zu bekommen und nicht einen gewieften Jesuiten“, sagt der renommierte Wiener Theologe Paul Michael Zulehner.
Vom Vatikan aus machen sich historische Umbrüche breit. Ohne großes Aufsehen läuft derzeit weltweit eine Art Kirchenvolksbefragung. In Österreich hat deshalb jüngst auch der Dachverband aller kirchlichen Organisationen, die „Katholische Aktion“, eine eigene Homepage eingerichtet (www.wodruecktderSchuh.at). Mit 40 ganz konkreten Fragen wird via Schulnoten-Skala das aktuelle Meinungsbild zu katholischen Streitthemen erhoben; vom Umgang mit Geschiedenen bis zu Lehraussagen zur Verhütung. Das Ergebnis soll 2014 präsentiert und auf einer Zusammenkunft aller Bischöfe diskutiert werden. Für Rom ist nicht nur das Tempo, sondern auch die Vorgangsweise revolutionär. Papst Franziskus ist umwerfend radikal und noch für viele Überraschungen gut. Die in seinen ersten acht Amtsmonaten waren für die Kirche bereits Weihnachten und Ostern zugleich.
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